Page - 416 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 416 -
Text of the Page - 416 -
416 Dieses „doing gender“ wird gleich eingangs in XXs Erzählung vom Fleisch-Sä-
gen offenbar, wenn sie ihren Mann zitiert, der eine schlachtende Frau als „mehr
einen Mann als eine Frau“ bezeichnete. Die Konstruktion der Geschlechterrollen
funktioniert nach einer dualistischen Logik, in der sich der starke, abgehärtete
Mann und die schwache, empfindliche Frau antagonistisch gegenüberstehen.
Auch TGs Erinnerungserzählung von der genügsamen Mutter, die aus Rück-
sicht auf ihre Kinder hungerte, arbeitet mit einem Gegensatz, den der Erzähler
abschließend noch klar ausformuliert: „Was eine Mutter im Leben tut, das ist nicht
zu sagen und nicht zum schätzen, für seine Familie. Viel mehr als ein Vater.“ TG
reinszeniert hier durch seine Verallgemeinerung auf den Typus der Mutter das
Bild der aufopfernden, fürsorglichen, selbstlosen Frau und Mutter, deren Rolle ein
Mann und Vater a priori schwer einnehmen kann.
UFs Erzählung schließlich dokumentiert Geschlechterrollen in ihrer Erzählung
dahingehend, dass sie deren Konstruktion aufbricht und durch ihre Handlung hin-
terfragt: Sie schildert die Begegnung eines Mannes mit einer Frau im Gebirge. Die
Tatsache, dass die Frau alleine unterwegs ist, veranlasst den Mann zur Sorge um
die Frau. Diese Sorge versteht die Frau allerdings ironisch durch eine Spiegelung
zurückzuweisen und zeigt mit dieser Ironie die gegensätzlichen (und fragwürdi-
gen) Zuschreibungen der Geschlechter auf.
Ob Geschlechterrollen in den Erzählungen kritisch angesprochen werden (wie das
etwa bei UF der Fall ist), weitertransportiert werden (wie dies TG vorführt), oder
als Illustration historischer Verhältnisse fungieren (was bei XX angenommen wer-
den kann), hängt nicht zuletzt von der persönlichen Haltung und dem Grad der
Emanzipation der ErzählerInnen ab – steht aber auch in Zusammenhang mit dem
Erzählstoff. Während etwa Frauen als Bergsteigerinnen heute weitgehend aner-
kannt sind und UF im obigen Ausschnitt von einer Solidarisierung der Zuhörerin
mit der Erzählerin ausgehen kann, stellt die Rolle der Frau als Mutter (bzw. die
Mutterrolle als Frauenrolle) bis heute einen mitunter heftigen Diskurs dar, weshalb
der 1910 geborene Erzähler TG sich kaum bewusst sein kann, hier ein anachronis-
tisches Frauenbild zu transportieren.
Einen weiteren Aspekt von Geschlechterbildern in lebensgeschichtlichen Erzäh-
lungen stellen musterhafte oder stereotype Erzählungen dar, die klar auf das Frau-
Sein oder Mann-Sein bezogen sind. Besonders deutlich werden Muster in den
Erzählungen über Frauen-Schicksale anderer, aber auch in Bezug auf die eigene
Person. Frauenbiografien erscheinen häufig als „Lebensläufe voller Erschwernisse“
– seien es Abhängigkeiten, Doppel- und Dreifachbelastungen oder besonders
harte Arbeit, die das Leben der heldenhaften Figuren prägen.
TG ♂, geboren 1910:
TG: Der Vater ist zu Weihnachten gestorben. Und das letzte Kind, die Schwes-
ter, die ist erst im März auf die Welt gekommen. Und da hat sie [die Mutter,
Anm.] eine Pflegerin gehabt. Jetzt ist … hat die Mama gesagt: „I bin jätzt
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439