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436 wird unterstellt, harte Arbeit nicht mehr zu kennen, und generell: so verwöhnt zu
sein, dass sich keine Zufriedenheit mehr einstellen könne. Im Rahmen der Idylli-
sierung von Armut und harter Arbeit wird zumeist auf das heile Familienleben,
den Zusammenhalt in Familie und Nachbarschaft sowie auf Bescheidenheit und
Zufriedenheit angespielt. Hierbei handelt es sich um Eigenschaften und Befindlich-
keiten, die viele ErzählerInnen in der heutigen Gesellschaft zu vermissen angeben.
Die Idyllisierung von Armut und harter Arbeit leitet direkt über zu einem weiteren
wichtigen strukturellen Erzählmuster, nämlich dem Vergleich. Vergleiche stellen
eine sehr verbreitete Denk- und Darstellungsmethode bzw. ein kulturell vorgege-
benes Regelsystem dar. Der Vergleich ist ein Schema des Erinnerns und Erzählens,
das auf einem Denken in Dualismen beruht.18
Wie schon in Bezug auf den Erzählstoff des Wandels deutlich geworden ist,
arbeiten die ZeitzeugInnen in ihren Darstellungen häufig mit Gegenüberstellungen
– vornehmlich jener des „Früher“ mit dem „Heute“. Die ErzählerInnen bemühen
sich in ihren lebensgeschichtlichen Erzählungen sehr häufig um eine Rekonstruk-
tion dieses Wandels – und verzichten kaum je auf eine klare Stellungnahme. Diese
Stellungnahme bringt in den meisten Fällen Sorge oder Unzufriedenheit mit aktu-
ellen soziokulturellen Gewohnheiten, Lebensstilen oder gesellschaftlichen Wert-
vorstellungen zum Ausdruck, diese Haltung wurde bereits mehrfach unter dem
Begriff „Kulturpessimismus“ angesprochen. Die erzählerische Folge dieser Sorge
sind häufig ausführliche Beschreibungen der kritisierten Begebenheiten. Vielfach
gehen diese kritischen Erzählungen, die ohne weiteres als kulturpessimistisch
bezeichnet werden können, mit bestimmten Topoi des Erzählens einher. In ein-
zelnen Fällen nehmen die ErzählerInnen besonders ablehnende oder gar aggres-
sive Haltungen gegenüber dem „Heute“ bzw. auch dem/der das „Heute“ repräsen-
tierenden InterviewerIn ein. Diese negative Attitüde kann somit nicht zuletzt als
logische Konsequenz bzw. als Produkt gerade des Vergleichs verstanden werden.
Um den Vergleich, beispielsweise jenen des „Früher“ mit dem „Heute“, noch
augenfälliger zu machen, greifen die ErzählerInnen gerne auf Extreme für ihre
Darstellungen zurück. Besonders gerne wird erzählt, was heute als unvorstellbar
oder gar konträr zu heutigen Verhältnissen empfunden wird. Zum Teil erklärt sich
dieses Bedürfnis auch aus der Erzählsituation: Man möchte dem Gegenüber etwas
Spektakuläres bieten und rechtfertigen, warum gerade man selbst als Interview-
partnerIn ausgewählt wurde.
Ein diesbezügliches Paradebeispiel stellt der Erzählstoff der traditionellen Berg-
landwirtschaft dar, die (am Beispiel des Heuzugs, tagelanger Heuarbeiten in den
Bergmähdern oder der Hirtenarbeit im Kindesalter) ebenfalls vor allem in ihren
historischen Extremen dargestellt wird. Es wird darauf geachtet, die Erzählungen
besonders unterhaltend zu gestalten und mitunter spektakuläre Inhalte zu bieten.
Der Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft im Montafon präsentiert
18 Lehmann, Albrecht: Der Schicksalsvergleich. Eine Gattung des Erzählens und eine Methode des
Erinnerns. In: Bönisch-Brednich u.a. (Hg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen
Volkskundekongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991. S. 197–207. Hier S. 197ff.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439