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Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationaler Kooperation und
Konkurrenz18
gen.31 Wie Geert Somsen jüngst zeigte, erlebte etwa das Gebot des wissenschaftlichen
Universalismus über die Jahrhunderte hinweg substanzielle Bedeutungsverschiebun-
gen.32 Somsen filtert einige Kernelemente heraus, die den Begriff in seiner naturwissen-
schaftlichen Geschichte begleiten. Seit der griechischen Antike beschreiben Wissen-
schaftler und Wissenschaftlerinnen mit dem Begriff Universalismus ihr spezifisches
Ethos, auf das sie ihren Autoritätsanspruch gründen. Das Ethos besagt, dass Methoden,
Aussagen und Schlussfolgerungen der Wissenschaften unabhängig von der Person sowie
von Ort und Zeitpunkt ihrer Entstehung gültig sind.33 Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler sind zum Wohle der gesamten Menschheit tätig, und ihre friedliche Koope-
ration auf egalitärer Basis erscheint als ureigenster Wesenszug ihres Tuns.
Unter Wissenschaftshistorikerinnen und -historikern herrscht mittlerweile ein breiter
Konsens darüber, dass die universale Wissenschaft eine Chimäre ist. Sozialwissenschaft-
lich orientierte Wissenschaftshistoriker wie David Livingstone und Stephen Shapin
zeigten, dass das lokale Setting wissenschaftliches Handeln und mithin auch die wissen-
schaftliche Erkenntnis grundlegend beeinflusst.34 Dass sich wissenschaftliche Ideen
über geographische Grenzen hinweg verbreiten, ist erklärungsbedürftig und gilt nicht
als erwartbarer Effekt einer vermeintlich universalistischen Wissensproduktion.
Auch das Idealbild einer von patriotischem oder nationalem Gedankengut unbelas-
teten Wissenschaftsgemeinschaft, das in den Naturwissenschaften vielfach gepflegt
wird, hält der historischen Analyse nicht stand. Das Bewusstsein, selbst einer Nation
anzugehören, die anderen Nationen kulturell überlegen und deshalb in der Lage ist,
die Welt nach den eigenen Ansichten zu formen, waren und sind in Wissenschaftskrei-
sen ebenso verbreitet, wie im Rest der Bevölkerung.35 Das gilt längst nicht nur für
Kriegs- und Krisenzeiten. Die Historikerin Gabriele Metzler zeigte, dass sich Physike-
rinnen und Physiker im Deutschen Reich, aber auch in anderen Staaten Europas und
in den USA, bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts als tragender Teil ihrer Kultur-
nation verstanden. Sie lebten im Selbstverständnis, durch ihre Arbeit verbindliche
kulturelle Werte für die eigene Nation zu schaffen und damit ihre Position in der Welt
zu stärken.36 Hinzu kommt, dass die modernen Naturwissenschaften trotz ihrer
31 Siehe die unterschiedliche Verwendung des Begriffs bei Danneberg/Schönert 1996, 8–9 ; Cock 1983,
249 ; Brookman 1979, 17 ; Schroeder-Gudehus 1979, 62.
32 Siehe zur Historisierung des Universalismus-Begriffes Somsen 2008, 362.
33 Der US-amerikanische Soziologe Richard K. Merton führt den so verstandenen Universalismus der Wis-
senschaft als eine von vier Charakteristika auf, die die echte Wissenschaft von einer unethischen Anti-
Wissenschaft trennen. Vgl. Merton 1957.
34 Vgl. Livingstone 2003 ; Shapin 1995.
35 Vgl. Metzler 2000a ; Schroeder-Gudehus 1978 ; Schroeder-Gudehus 1966.
36 Vgl. Metzler 2002, 291.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369