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Österreich-Ungarn in der internationalen Radiumökonomie 33
Die radioaktiven Substanzen kamen in der Natur nicht einfach als diskrete Stoffe
vor, sondern mussten in einem aufwendigen chemisch-iterativen Prozess aus den sie
umgebenden Erzen gewonnen werden. Österreich-Ungarn war um die Jahrhundert-
wende der bedeutendste Lieferant von Pechblende, die als Ausgangsmaterial für die
Gewinnung von Uran- und Radiumsalzen diente.13 Die Pechblende, die Marie Curie
für ihre Extraktionsarbeiten verwendete, stammte aus dem Silberbergwerk im böhmi-
schen St. Joachimsthal, das bis 1918 im Einflussbereich der Monarchie lag. Pechblende
fiel in großen Mengen bei der Produktion von Uranverbindungen an, die Porzellanma-
nufakturen und Glashütten im 19. Jahrhundert als Färbemittel dienten.14 Die ver-
meintlich wertlosen Rückstände aus der Urangewinnung hatten sich über Jahrzehnte
hinweg in der k. k. Uranfarbenfabrik in St. Joachimsthal angesammelt. Es verwundert
daher nicht, dass das für die Grube zuständige k. k. Ackerbauministerium in Wien die
Pechblende auf Vermittlung des Präsidenten der Kaiserlichen Akademie der Wissen-
schaften in Wien, Eduard Suess, anfangs kostenlos und später zu einem sehr modera-
ten Preis an das Ehepaar Curie abgab.15 Die Curies stellten aus den böhmischen Erzen
zunächst eigenhändig für jene Zeit stark radioaktive Präparate her.16
Der französische Ressourcenreichtum sprach sich im Kollegenkreis schnell herum.
Voller Neid schrieb 1904 der US-amerikanische Radiochemiker Bertram Boltwood an
Ernest Rutherford, sein Laborkollege in Yale habe die Curies in Paris besucht und sei
Augenzeuge wilder wissenschaftlicher Orgien geworden, in denen ein Präparat mit 280
Milligramm reinen Radiumbromids eine prominente Rolle gespielt habe.17 Obwohl
Rutherford als Professor für experimentelle Physik an der McGill University im kana-
dischen Montreal zu diesem Zeitpunkt fast 70 Artikel zu einem breiten Spektrum ra-
dioaktivitätsbezogener Fragestellungen publiziert hatte, befand er sich ähnlich wie sein
Kollege Boltwood in Yale an der Peripherie, was den Zugang zu radioaktiven Substan-
zen betraf. Er musste vorerst mit schwächeren Proben vorlieb nehmen.
Das Ehepaar Curie erhielt unterdessen zahlreiche Anfragen zum Verleih radioak-
tiver Präparate aus dem In- und Ausland. Es lieh oder schenkte kleinere Proben vor
allem französischen Physikern, insbesondere Henri Becquerel, Chemikern und, an-
13 Vgl. Kohl 1954, 43.
14 Vgl. Seidlerová/Seidler 2010, 15–16.
15 Meyer hielt 1937 fest, dass die Curies zwischen 1898 und 1905 insgesamt 21,1 Tonnen Uranerzrück-
stände aus Österreich-Ungarn erhalten und dafür 10.652,93 Kronen bezahlt hatten. Vgl. Archiv der Ös-
terreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, FE-Akten, Radiumforschung, Nachlass Stefan Meyer,
ab sofort : AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 276 : Meyer an Paneth vom 18.11.1937.
16 Curie meldete 1902, im Besitz von 0,1 Gramm reinen Radiums zu sein, das sie aus mehreren Tonnen
böhmischer Pechblende extrahiert hatte. Vgl. Mattauch 1948, 12.
17 Vgl. CUL, RC, Add 7653, B 171 : Boltwood an Rutherford vom 8.8.1904. Hervorhebungen im Original.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369