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Das regionale Netzwerk formiert sich 47
nicht zum Zuge kam, ging nach Graz, Innsbruck, Brünn, Prag oder Czernowitz.86
Wer konnte, nutzte allerdings die erste sich bietende Gelegenheit, um nach Wien zu-
rückzukehren.87 So gelangte die Radioaktivitätsforschung vom Zentrum in die Peri-
pherie und wurde auch dort zum festen Bestandteil des universitären Forschungs- und
Lehrbetriebs. Da die Exner-Schüler kulturell wenig mobil waren, verbreitete sich die
Radioaktivitätsforschung vor allem an den deutschsprachigen Hochschulen des Habs-
burgerreiches. Kaum einer von ihnen lehrte und forschte an einer der nicht-deutsch-
sprachigen Hochschulen der Monarchie, und keiner wanderte vor 1914 aus berufli-
chen Gründen in das Ausland ab.
Obwohl die Exner-Schüler den Forschungsfeldern ihres Lehrers oft ein Leben lang
treu blieben, kam es in der Regel kaum noch zu gemeinsamen Projekten, sobald einer
von ihnen eine Lehrkanzel übernommen hatte. Das hieß allerdings nicht, dass die
Kontakte innerhalb des Kreises weniger intensiv waren als zuvor. Doch sie fanden
vornehmlich außerhalb des wissenschaftlichen Labors statt. Viele Mitglieder des Krei-
ses standen in Briefkontakt und waren durch den Austausch von Publikationen über
die Forschungsaktivitäten ihrer Freunde und einstigen Kollegen entweder direkt infor-
miert oder sie erhielten die Informationen durch gemeinsame Freunde.
Ihre gemeinsame Ausbildung in Wien, die Vielzahl an wissenschaftlichen Koopera-
tionen zu Beginn ihrer akademischen Karriere und der fortdauernde freundschaftliche
Kontakt prägten die Art und Weise, wie sich die Mitglieder des Exner-Kreises physika-
lischen Fragen wissenschaftlich näherten. Betrachtet man die methodisch-inhaltliche
Vorgehensweise, dann zeigt der Kreis Merkmale eines Denkkollektivs im Sinne Ludwik
Flecks.88 Der Wissenschaftsphilosoph Michael Stöltzner attestiert dem Kreis einen
charakteristischen Denkstil, der
»entscheidende Durchbrüche auf den Gebieten der Schweidler’schen Schwankungen und der
Brown’schen Bewegung, sowie, auf beide gestützt, weitreichende Veränderungen im philoso-
phischen Verständnis der modernen Physik ermöglichte. […] Prägend für den Denkstil des
Exner-Kreises waren (i) die […] Kombination explorativer Experimentalstrategien mit pro-
fundem Verständnis der statistischen Mechanik ; (ii) die gleichzeitige Arbeit auf bestimmten
experimentellen Gebieten, darunter Luftelektrizität und Radiumforschung, in denen
Schwankungsphänomene auftreten ; (iii) die Verpflichtung auf einen empiristischen Kausali-
tätsbegriff im Sinne Ernst Machs, der phänomenologisch festgestellte Abhängigkeiten als
86 Vgl. Benndorf 1937, 8. Siehe zur Rangordnung der Universitäten Österreich-Ungarns Surman 2012 ;
Havránek 1998.
87 Dies gilt beispielsweise für Heinrich Mache, der 1906 zum außerordentlichen Professor an die Universi-
tät Innsbruck berufen und 1908 als Nachfolger Friedrich Hasenöhrls Ordinarius an der TH Wien wurde.
88 Vgl. Fleck 1980, 54–58.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369