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Das Zentrum formiert sich 55
»Heute erhielten wir vom Arbeitsministerium die Verständigung, dass unser Institut bleihäl-
tige Rückstände in Form feuchten Chlorides in einer Menge von rund 200 kg kostenlos er-
halten könne […]. Ich habe natürlich sofort darum angesucht und danke Ihnen für Ihre da-
hinter steckenden Bemühungen herzlichst. […] Vielleicht wären Sie so freundlich uns eine
Probe des in Aussicht genommenen Ausgangsmaterials gleich zugehen zu lassen, es könnte
dann Dr. [Fritz] Paneth, der die entsprechende Arbeit hier durchführen will, einige Vorversu-
che damit machen und ihnen alle seine Wünsche im Detail zur Begutachtung unterbreiten.«124
Die Verbindung Meyers zur böhmischen Radiumindustrie war keine Einbahnstraße.
Vielmehr erbrachte das Institut für Radiumforschung eine Reihe von Dienstleistungen
für die Radiumindustrie und ließ sich diese Arbeit reich, wenn auch nicht immer in
barer Münze, entlohnen. Die St. Joachimsthaler Präparate wurden im Institut gewo-
gen, dosiert und geeicht.125 Die Eichung erfolgte in Absprache mit dem k. k. Ministe-
rium für öffentliche Arbeiten vorerst unentgeltlich.126 Doch die Präparate standen
während der Zeit, in der die Eichung vorgenommen wurde, am Institut für wissen-
schaftliche Zwecke zur Verfügung. Die Kooperation mit der Radiumindustrie zahlte
sich für das Institut auch in anderer Hinsicht aus. So bestimmten Meyer und seine
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Radiumgehalt der St. Joachimsthaler Gesteins-
proben, wofür ihm Ulrich entsprechend reine Erze schickte.127 Außerdem beriet Meyer
Ulrich auch hinsichtlich der Preisgestaltung für radioaktive Produkte, die dieser wiede-
rum dem Ministerium beziehungsweise dem k. k. Montan-Verkaufsamt vorschlug. Die
Beratung stellte er Ulrich zwar nicht gesondert in Rechnung, doch er bat darum, seine
Unterstützung mit einem »nicht zu karg zu bemessende[n] Äquivalent« radioaktiven
Materials – in diesem Falle handelte es sich um Actinium – zu vergelten.128
Meyers gute Kontakte zur böhmischen Radiumindustrie und zur federführenden
Ministerialbürokratie in Wien waren in Radioaktivisten-Kreisen wohlbekannt. Speziell
Marie Curie hoffte durch Meyers Vermittlung den wachsenden Widerstand des k. k.
Ministeriums für öffentliche Arbeiten gegen Pechblendeexporte nach Frankreich zu
überwinden. Trotz einer Intervention der k. k. Außen- und Innenministerien zuguns-
124 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 20, Fiche 321 : Meyer an Ulrich, undatiert [Frühjahr 1912].
125 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 20, Fiche 320 : Ulrich an Meyer vom 3.1.1911 ; ebd., K 20, Fiche
322 : Meyer an Ulrich vom 26.7.1913. Meyer beriet Ulrich auch während des Krieges hinsichtlich der
Eichung und Preisgestaltung. Siehe AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 20, Fiche 323 : Meyer an Ul-
rich vom 24.6.1915.
126 Vgl. Braunbeck 1996, 103.
127 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 20, Fiche 322 : Meyer an Ulrich vom 30.11.1912 ; siehe auch
Souczek, Messungen, zitiert bei Bischof 2004, 76–77, 81.
128 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 20, Fiche 322 : Meyer an Ulrich vom 25.10.1913.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369