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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191860
der β-Strahlen. Angehörige ihres Instituts untersuchten Zerfallskonstanten, Halbwerts-
zeiten und Symmetrieeigenschaften der in Paris entdeckten radioaktiven Substanzen.
Auch zu den chemischen Eigenschaften der Radioelemente und zur Absorption der
Strahlung wurde in Paris gearbeitet. Schließlich gehörte die Herstellung möglichst reiner
radioaktiver Substanzen zum Aufgabenspektrum des Labors.153 Ein solch weites Spekt-
rum an Fragestellungen zu bearbeiten, war in einem Land wie Spanien, das an der Peri-
pherie Europas lag und in dem die physikalische Forschung durch eine »Kultur des
Mangels« gekennzeichnet war, nicht möglich.154 Da starke Radiumpräparate fehlten,
konzentrierte sich die Forschungsarbeit darauf, die atmosphärische beziehungsweise
Umweltstrahlung zu untersuchen. Der Hauptvertreter der frühen spanischen Radioakti-
vitätsforschung, José Muñoz del Castillo, hatte 1903 vergebens versucht, Pechblende aus
Österreich-Ungarn zu beziehen, um daraus radioaktive Proben herzustellen. Er schei-
terte an dem mittlerweile verhängten Ausfuhrstopp des k. k. Ackerbauministeriums.
Daraufhin untersuchte Muñoz del Castillo in seinem Labor für Radioaktivität an der
Universität von Madrid radioaktive Wässer, bevor er sich schließlich den Möglichkeiten
einer landwirtschaftlichen Nutzung radioaktiver Strahlung zuwandte. Seine zunächst auf
Spanisch verfassten Publikationen wurden im Ausland kaum wahrgenommen. Muñoz
ging 1909 schließlich dazu über, seine Beiträge sowie bedeutende Fachartikel von Drit-
ten ins Französische übersetzen zu lassen und in der hauseigenen Zeitschrift »Boletín del
Laboratorio de Radioactividad« zu veröffentlichen.155
Während man in Berlin und in anderen deutschen Universitätsstädten den Schwer-
punkt auf die Erforschung des Thoriums legte, wurde an der Universität und der
Technischen Hochschule Wien ein breites Spektrum radioaktiver Themen bearbeitet.
Am Institut für Radiumforschung wurden bevorzugt die verschiedenen Glieder der
Radiumreihe untersucht. Im Vergleich zu den zahlreichen Wiener Publikationen waren
die deutschen Universitäten in der Peripherie Österreich-Ungarns in Sachen Radioak-
tivitätsforschung weniger produktiv. In Innsbruck, Graz und an den deutschsprachi-
gen Universitäten und Hochschulen in Prag, Brünn und Czernowitz führte nicht nur
die Belastung durch Lehre und administrative Pflichten dazu, dass die Forschenden
dort sehr viel seltener zu radioaktiven Themen publizierten. Auch die im Vergleich zu
Wien schlechtere materielle Ausstattung, zu der auch die Versorgung mit starken Radi-
umpräparaten zählte, spielte eine Rolle. Der gelegentliche Verleih schwächerer Präpa-
rate über das Netzwerk der Exner-Schüler konnte an diesem strukturellen Ungleichge-
wicht nur wenig ändern.
153 Vgl. Schürmann 2006, 35.
154 Vgl. Glick 1988, 367–372.
155 Vgl. Herran 2008b, 327–329.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369