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Das Zentrum formiert sich 65
Meyers Intervention trug dazu bei, dass Hönigschmid schließlich als Erster einen
Erfolg vermelden konnte. Mithilfe des Wiener Bleichlorid-Präparats, einer von
Meyer bereitgestellten Probe australischen Bleis und mehrerer aus Wien zugesandter
Apparate, bestimmte er in Prag das Atomgewicht des Bleis und präsentierte das Er-
gebnis vor seinen Rivalen Fajans und Debierne im Frühjahr 1914 in Leipzig. Zum
Dank veröffentlichte Hönigschmid seine Ergebnisse in den Sitzungsberichten der
Akademie.
Wie eng Konkurrenz und Kooperation in der Radioaktivitätsforschung beieinander
lagen, zeigt auch ein anderes Beispiel. So erklärte sich Hönigschmid bereit, aus einem
Wiener Präparat für Fajans Actinium abzuscheiden, weil diesem die notwendige
Menge an Proben fehlte, um die Frage der Actinium-Genese experimentell zu klären.
Und er fuhr fort : »Ich […] würde mich […] gerne der Mühe unterziehen, denn ich
glaube, dass er mit seiner Anschauung über die Vaterschaft des Ac recht hat und es
wäre doch ganz schön, wenn die Arbeit hier im Radiuminstitute gemacht würde.«178
Meyer war zwar prinzipiell damit einverstanden, Fajans die gewünschten Präparate in
Wien bereitzustellen, blieb jedoch misstrauisch. Da er den Münchener Radiochemiker
nicht persönlich kannte, verließ er sich zunächst auf das Urteil seiner britischen Kol-
legen Rutherford und Soddy. Fajans hatte unabhängig von Soddy eine Theorie der
Isotope entwickelt und zudem einen Teil seiner Ausbildung bei Rutherford in Man-
chester absolviert ; bei beiden genoss er einen schlechten Ruf als »Prioritätsfatzke, der
die Institutsgespräche anderer ausbeutet«.179 Das Urteil seiner britischen Kollegen
bestärkte Meyer in seinem Vorbehalt gegenüber Fajans. Hinzu kam, dass in Wien
bereits ähnliche Versuche geplant wurden. So wollte Georg von Hevesy gemeinsam
mit Fritz Paneth Versuchsreihen über die Actinium-Genese aus Bor durchführen.
Nachdem Hevesy einen Ruf an die Universität Budapest erhalten hatte, hielt es Meyer
allerdings für wenig wahrscheinlich, dass der ungarische Radiochemiker seine Pläne
tatsächlich umsetzen würde. Dies bewog ihn, Fajans schließlich doch nach Wien ein-
zuladen.
Paneth, der Institutsassistent, wurde Fajans beigeordnet und führte die Untersu-
chungen weiter, nachdem Fajans aus Wien wieder abgereist war.180 Die Zusammenar-
beit der beiden Radiochemiker mündete kurz vor Kriegsbeginn in einer gemeinsamen
Publikation.181 Die deutsch-österreichische Kooperation blieb ein Einzelfall. Denn
kurz darauf gerieten Paneth und Hevesy mit Fajans in eine kontrovers geführte De-
178 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 219 : Hönigschmid an Meyer vom 20.10.1912.
179 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 219 : Meyer an Hönigschmid vom 22.7.1913.
180 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 12, Fiche 185 : Meyer an Fajans vom 29.7.1913.
181 Vgl. Paneth/Fajans 1914.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369