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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191868
sollten. Meyers Bestreben, alle Nicht-Physiker in ihre Schranken zu verweisen, die sich
in metrologische Fragen einmischten, geschah aus gutem Grund. Der US-amerikani-
sche Soziologe Thomas F. Gieryn belegte die Bemühungen von Wissenschaftlern, ihre
Arbeit von den angeblich nicht-wissenschaftlichen Aktivitäten Dritter unterscheidbar
zu machen, mit dem Begriff des »boundary work«.186 Die damit verbundene Rhetorik
richte sich in der Regel an die Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger. Ziel
der Wissenschaftler sei es, so Gieryn, zusätzliche Forschungsmittel zu werben, einen
symbolischen Mehrwert zu erlangen, oder aber die berufliche Autonomie zu verteidi-
gen.
Meyer und seine Kollegen und Kolleginnen im In- und Ausland hatten mindestens
zwei gute Gründe, sich scharf gegen die Mediziner abzugrenzen und so ihren Gel-
tungsanspruch in metrologischen Fragen zu untermauern. Erstens suchten sie sich ih-
rer eigenen Referenzgruppe zu versichern. Denn die nach außen präsentierte Einheit
der internationalen Radioaktivistengemeinschaft war brüchig : Es gab eine große
Vielfalt von methodisch-technischen Zugängen, um die stetig wachsende Zahl von neu
entdeckten radioaktiven Substanzen zu erforschen. In Großbritannien etwa verlief der
Streit, welches Verfahren am besten geeignet sei, um die radioaktiven Zerfallsprozesse
zu messen, entlang der Disziplingrenzen. Radiochemiker wie William Ramsay und
Henry Armstrong weigerten sich, das von der Mehrheit anerkannte Experimentalsys-
tem Rutherfords zu akzeptieren und dessen Messergebnisse ernst zu nehmen.187 Zwei-
tens brauchte Meyer als Fürsprecher der internationalen Radioaktivistengemeinschaft
gegenüber der k. k. Ministerialbürokratie in Wien ein schlagkräftiges Argument, um
bei der Beschaffung von Radium für Standardisierungszwecke gegenüber den Ärzten
nicht den Kürzeren zu ziehen. Den Medizinern ginge es, wie Meyer den Beamten
immer wieder klar zu machen suchte, doch nur ums Geld und sie nähmen dafür in
Kauf, notfalls ihre Patienten zu schädigen.188 Die Radioaktivistengemeinschaft sei
hingegen ohne jede Gewinnabsicht daran interessiert, ein international verlässliches
metrologisches System zu erschaffen. Dafür benötigte Meyer aber die verbindliche
Zusage, Radium in erforderlichem Umfang bevorzugt zugeteilt zu bekommen.
186 Gieryn 1995 ; Gieryn 1983, 782.
187 Rutherfords Messmethode mittels eines Elektroskops setzte sich gegenüber der von Ramsay verfochte-
nen Methode der Massenbestimmung des Atomgewichts durch und fand in Großbritannien vielfachen
Einsatz bei der Standardisierung radioaktiver Präparate für Industrie und Medizin. Vgl. Hessenbruch
1994, 70, 107, 109–110. Interdisziplinäre Dispute, unter anderem über die »Natur des Radiums«, fan-
den zu jener Zeit auch in Berlin statt. Vgl. Reinhardt 2001, 122–123.
188 CUL, RC, Add 7653, M 143 : Meyer an Rutherford vom 21.10.1912 ; ebd., Add 7653, M 166 : Meyer
an Rutherford vom 20.11.1913.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369