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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191870
diumindustrie werden.192 Die Branche war darauf angewiesen, dass auch geringste
Mengen Radium akkurat abzumessen waren. Schließlich galt es zu verhindern, dass
Betrüger Proben mit geringem oder gar keinem Radioaktivitätsgehalt verkauften und
damit die Vertrauenswürdigkeit der Radiumindustrie schädigten. Deren Vertreter wa-
ren daher durchaus bereit, die Forderung der Radiumlobby zu unterstützen.
Auch die über die Welt verstreuten Laboratorien, an denen zur Radioaktivität ge-
forscht wurde, benötigten international anerkannte und verlässliche Standards, um
Messgrößen in Zusammenhang mit Radium bestimmen und vergleichen zu können,
wie beispielsweise den Umfang der Emanation, den Wärmeeffekt, die Entstehungsrate
von Helium und die Emissionsrate von α- und β-Teilchen.193 Ein solcher Standard in
Form eines hochreinen radioaktiven Präparats erforderte eine spezifische Geometrie
und einen speziellen Filter, um die energieärmere Strahlung zu entfernen. Die Bedürf-
nisse von Wissenschaft und Industrie machten es somit immer wahrscheinlicher, doch
noch zu einer Einigung zu finden.
Die Internationale Radiumstandard-Kommission gab den Bemühungen der Radi-
umlobby schließlich einen institutionellen und international verbindlichen Rahmen.
Die Kommission wurde im September 1910 auf dem Internationalen Kongress für
Radiologie und Elektrizität in Brüssel unter dramatischen Umständen ins Leben geru-
fen. Wie Ernest Rutherford seinem Freund Bertram Boltwood berichtete, erinnerte
ihn der Kongress an ein »regelrechtes Tollhaus, in dem das Publikum außer Kontrolle
geriet, pfiff und herumplärrte«, so sehr erregte die umstrittene Standardisierungsfrage
die Gemüter.194 Obwohl der Kongress chaotisch ablief, setzte die französisch-britisch-
österreichische Radiumlobby, unterstützt von US-amerikanischen Kollegen, die Schaf-
fung eines international verbindlichen Standards für Radioaktivität durch, dem das
Element Radium zugrunde lag. Gehaltsmessungen von Radium in Erzen oder radio-
aktiven Substanzen sollten nicht anhand des Atomgewichtes oder durch eine chemi-
sche Analyse erfolgen, wie William Ramsay vorgeschlagen hatte. Mittels eines Elektro-
meters, das heißt eines mit genauen Meßvorrichtungen ausgestatteten Elektroskops,
sollte vielmehr die γ-Strahlung, die von dem zu messenden Material ausging, mit der
γ-Strahlung des Eichpräparats verglichen werden.195 Die Kommission einigte sich
darauf, ein sogenanntes Urnormal zu schaffen, an dem alle nachfolgenden Standards
geeicht wurden. Um den Radiumgehalt des Urnormals exakt angeben zu können,
sollte das Atomgewicht des Radiums zuvor eigens ermittelt werden.
192 Neben Radium wurde zu jener Zeit lediglich Mesothor industriell hergestellt.
193 Vgl. Rutherford 1910, 430.
194 Vgl. Rutherford an Boltwood vom 27.9.1920, zitiert bei Badash 1969, 226.
195 Bei der γ-Strahlenmethode handelt es sich um eine einfache Vergleichstechnik, die James Chadwick im
Auftrag Rutherfords ausgearbeitet hatte. Vgl. Brown 1997, 10–12 ; Rutherford/Chadwick 1912.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369