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Die Gefährdung des Zentrums 89
amerikanischen Kollegen Samuel C. Lind, den Leiter der Experimentierstation im
Department of Mines des US-amerikanischen Innenministeriums, war Meyer bestens
über verfügbare Mengen und Preise auf dem überseeischen Radiummarkt infor-
miert.287
Schon vor Beginn des Krieges hatte die Österreichisch-Ungarische Monarchie
schleichend ihr Monopol auf Uranerze verloren. Um die Jahrhundertwende waren im
US-Bundesstaat Colorado Pechblendevorkommen entdeckt worden, deren Förderung
zu diesem Zeitpunkt aber nicht lohnend erschien. Als im westlichen Teil Colorados
und in Utah große Mengen uranhaltiges Carnotit gefunden wurden, begann die Aus-
beutung der Gruben. Um das Jahr 1913 herum gingen US-amerikanische Industrie-
unternehmen daran, Radium herzustellen.288 Die US-amerikanische Radiumindustrie
produzierte im selben Jahr rund zehn Gramm Radium, und im darauf folgenden Jahr
bereits die doppelte Menge. Binnen weniger Jahre entstand ein florierender Industrie-
zweig, der den weltweiten Radiummarkt bis 1922 beherrschte.289
Da die Nachfrage weiter stark anstieg, erreichten die Radiumpreise 1914 ihren
Höchststand. Radium galt bei den Wiener Ministerien unmittelbar nach Kriegsbeginn
noch nicht als kriegswichtig, dementsprechend wenig reglementiert waren Produktion
und Verkauf.290 Doch im Kriegsverlauf änderte sich die Versorgungssituation in Hin-
blick auf Radium dramatisch. Industrielle Hersteller, die Leuchtfarben für das Militär
produzierten, konkurrierten mehr und mehr mit medizinischen Versorgungseinrich-
tungen und wissenschaftlichen Instituten im In- und Ausland um das kostbare Gut.291
Das St. Joachimsthaler Uranerz als Ausgangsstoff der Produktion wurde daraufhin vom
k. k. Ministerium für Landesverteidigung beschlagnahmt.292 Das Dekret wurde im
Mai 1917 zwar wieder aufgehoben, doch das k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten
musste sich im Gegenzug verpflichten, zivile Anträge zurückzustellen, solange der
287 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 253 : Lind an Meyer vom 21.12.1915.
288 Vgl. Landa 1993, 504.
289 Vgl. Fattinger 1937, 12–13. Neben privaten Unternehmen erzeugte auch das staatliche National Ra-
dium Institute in Delaware in Zusammenarbeit mit dem US-Bureau of Mines von 1914 bis 1917 circa
8,5 Gramm Radium.
290 Vgl. Braunbeck 1996, 134.
291 Vgl. ÖStA, AVA, k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten XVII 1918, F. 845 (309 a-) : Radiumverwer-
tungsgesellschaft an k. k. Montan-Verkaufsamt vom 16.1.1918. Die Preußische Akademie der Wissen-
schaften verkaufte ihre Vorräte an Mesothor, die ihre Maximalaktivität erreicht hatten, an die Radium-
Heil-Gesellschaft. Für den Erlös wollte sie in Wien Radium ankaufen. Vgl. Ernst 1992, 74. 1916 erwarb
die Radiologiska Institutionen in Lund mithilfe von Spenden 92 Milligramm Radium in Wien. Vgl.
Edling 1961, 48.
292 Die Braunschweiger Firma Buchler & Co. stellte daraufhin ihre Radiumproduktion ein. Vgl. Buchler
1958, 118–119, 121.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369