Seite - 90 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 90 -
Text der Seite - 90 -
Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191890
Heeresbedarf nicht gedeckt war.293 In den schwelenden Konflikt um die Verteilung des
Uranerzes schaltete sich schließlich Meyer ein. Angesichts der absehbaren Erschöpfung
der St. Joachimsthaler Gruben riet er, »Radium nur für jene Zwecke ab[zu]geben […],
bei welchen es als solches erhalten bleibt und nötigenfalls vom Staate in irgendeiner
Form in Anspruch genommen werden kann«.294 Insbesondere sei reines Radium nicht
mehr der Leuchtfarbenindustrie zu überlassen, da es damit unwiederbringlich verlo-
rengehe. Der noch vorhandene Rohstoff solle vielmehr thesauriert werden, um auf
Basis dieses Radiumvorrats einen Handel mit radioaktiven Zerfallsprodukten zu betrei-
ben.
Meyer konnte sich mit seinem Vorschlag, langfristig fünf Gramm Radium in Ös-
terreich-Ungarn für wissenschaftliche und allgemeine Zwecke zu sammeln, nicht
durchsetzen.295 Die Wiener Behörden entschieden, während des Krieges weiter Ra-
dium zu verkaufen, wenn auch in eingeschränkter und stärker regulierter Form. Die
Diskussion um die rationelle Verwendung des böhmischen Radiums wurde bald
gänzlich obsolet. Während Meyer mit den Ministerialbeamten in Wien noch um die
Verteilung des Radiums stritt, verhandelten Tomáš Garrigue Masaryk in den USA und
Edvard Beneš mit der französischen und britischen Regierung über die Anerkennung
des Nationalrates der tschechischen Länder. Im September 1918 wurden die Tsche-
chen von den USA als Kriegsteilnehmer und ihr Nationalrat als völkerrechtlich aner-
kannter Repräsentant anerkannt. Am 28. Oktober 1918 riefen Vertreter der vier
tschechischen Parteien in Prag den tschechoslowakischen Staat aus, zwei Tage darauf
konstituierte sich der Rumpfstaat Deutsch-Österreich. Im Sommer 1918, also lange
vor dem Untergang der Monarchie und der tschechoslowakischen Staatsgründung,
verlor Carl Ulrich seinen Posten als Leiter der Radiumfabrik in St. Joachimsthal.296
Noch bevor der Weltkrieg zu Ende ging, hatten die deutschsprachigen Radioaktivis-
ten und Radioaktivistinnen Österreich-Ungarns den Zugriff auf ihre wichtigste Res-
source verloren.
293 Vgl. ÖStA, AVA, k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten XVII 1918, F. 845 (309 a-) : k. k. Montan-
Verkaufsamt an k. k. Kriegsministerium vom 23.1.1918.
294 ÖStA, AVA, k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten XVII 1918, F. 845 (309a-) : k. k. Montan-Ver-
kaufsamt an k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten vom 1.6.1918.
295 Vgl. ÖStA, AVA, k. k. Ministerium für öffentliche Arbeiten XVII 1918, F. 845 (309a-) : Stefan Meyer,
Memorandum betreffend die Verwertung radioaktiver Substanzen vom 5.6.1918.
296 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 294 : Meyer an Rutherford vom 22.1.1920. Erläu-
ternd schrieb er : »He [Ulrich] does not know the čeck [sic !] language and as nobody in Joachimsthal
speaks it, it was quite unnecessary, but this crime was sufficient to dismiss him.”
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369