Seite - 100 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 100 -
Text der Seite - 100 -
Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932100
Fachkollegen aus dem Ausland wie Albert Einstein und Max Planck wurden einge-
schaltet, um den wissenschaftlichen Wert der Ehrenhaft’schen Forschung zu beurtei-
len.27 Ehrenhafts Arbeiten zum Nachweis kleinster Teilchen (Subelektronen) mithilfe
eines Ultramikroskops waren in der physikalischen Fachwelt des In- und Auslands
umstritten.28 Während die Kollegen aus dem Ausland Ehrenhafts wissenschaftliche
Beiträge unterschiedlich beurteilten, waren sich die Wiener Physiker in ihrer Befürch-
tung einig, dass er im Fall seiner Berufung die Ressourcen des II. Physikalischen Insti-
tuts für seine Forschungen nutzen und »die Lehrkanzel ihres universellen experimen-
tellen Charakters berauben und in ein ausschließliches Forschungsinstitut für das
Sub elektron verwandeln würde«.29 Ehrenhaft war dafür bekannt, seine physikalischen
Ansichten selbstbewusst zu vertreten, auch wenn sie gegen anerkannte Lehrmeinungen
verstießen.30 Zudem stand er im Ruf, in seinen materiellen Ansprüchen keine Gren-
zen zu kennen und die notwendigen Mittel für seine Forschung zu beschaffen, ohne
auf die Interessen seiner Kollegen Rücksicht zu nehmen. Darüber hinaus war er von
einem starken Bedürfnis nach öffentlicher Geltung erfüllt. Gemeinsam mit seiner
Gattin Olga Steindler, die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität bei
Franz Serafin Exner dissertiert hatte, führte er in Wien ein großbürgerliches Haus, in
dem Vertreter der in- und ausländischen Naturwissenschaft und Kunst aufeinander
trafen.31 Da Ehrenhaft selbst aus einer arrivierten jüdischen Wiener Familie stammte,
trug die Kritik an ihm nicht selten einen antisemitischen Unterton. Unter den Wiener
Physikern blieb er fachlich wie sozial ein Außenseiter.
Im Kern des Besetzungsstreits, der sich an Ehrenhaft entzündete, stand die Frage,
wie die Physikalischen Institute der größten Universität Österreichs künftig inhaltlich
ausgerichtet und materiell ausgestattet sein sollten. Dabei geriet auch die bisherige
Arbeitsteilung zwischen dem Institut für Radiumforschung und dem II. Physikalischen
Institut auf den Prüfstand. Schweidler befürchtete nicht zu Unrecht, dass der primo
loco gesetzte Jäger ebenso ungeeignet sei wie Ehrenhaft, das II. Physikalische Institut
im Sinne Exners als Universalinstitut zu leiten, in dem die Radioaktivitätsforschung
nur eines von mehreren Lehr- und Forschungsgebieten war. Seinem Freund Meyer gab
er zu bedenken, dass
27 Vgl. die Stellungnahmen von Max Planck, Albert Einstein und anderen im Konvolut ÖStA, AVA, Mi-
nisterium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640/4/5770 (1920). Die Gutachten fielen in ihren
Bewertungen gemischt aus, Gegner und Befürworter der Kandidatur Ehrenhafts hielten sich die Waage.
28 Vgl. Makus/Heering 2006 ; Makus 2002.
29 UAW, PA Felix Ehrenhaft, PH PA 1537, Kiste 67, Bl. 58 : Abstimmungsergebnis über die Eignung Eh-
renhafts als Nachfolger auf dem Exner-Lehrstuhl vom 3.3.1920.
30 Vgl. Braunbeck 2003, 28.
31 Vgl. Braunbeck 2003, 39–40, 46–49.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369