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Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung,
1919–1932124
Gent, der die darin enthaltenen Uranoxidmengen bestimmte und die Messungen
bestätigte, die bereits im mineneigenen Labor gemacht worden waren. Schoep veröf-
fentlichte seine Analysen am 5. Dezember 1921 in den »Comptes Rendus« der
Académie des Sciences in Paris.145 Zwar war die Publikation in Wien bekannt, doch
wusste man dort offenbar nichts von der Zusammenarbeit zwischen Schoep und der
Union Minière.146
Da das belgische Unternehmen über keinerlei Erfahrungen bei der Radiumgewin-
nung aus Uranerzen verfügte, wandte sich die Unternehmensleitung im Juli 1921
vertraulich an Meyer, dessen intensive Vorkriegs-Kontakte zur böhmischen Radiumin-
dustrie und dessen Überblick über die Entwicklungen auf dem Radiummarkt in der
Branche bekannt waren. Er und einige seiner Mitarbeiter hatten außerdem einschlägig
publiziert, wobei sie radioaktive Erze geophysikalisch analysierten.147 Joseph Leemans,
der mit dem Aufbau einer neuen Fabrikanlage zur Weiterverarbeitung radioaktiver
Erze im belgischen Olen betraut worden war, fragte Meyer, ob die Radiumfabrik in
Jáchymov bereit sei, die belgischen Erze weiterzuverarbeiten.148 Er war um Diskretion
bemüht und bat darum, »dass die betreffende Sendung als anonym beschaut werde.
Auch möchte ich Sie noch ersuchen dafür Sorge zu tragen, dass nichts veröffentlicht
werde mit Bezug auf unsere Erze.«149 Die Bitte um Diskretion erscheint vor dem Hin-
tergrund, dass die Produktion noch nicht einmal angelaufen war, durchaus verständ-
lich. Meyer vermutete allerdings, dass die Geheimhaltungspolitik des belgischen Un-
ternehmens eher der politischen Situation kurz nach Kriegsende geschuldet war. Im-
merhin waren die Belgier auf dem besten Wege, mit dem einstigen Kriegsgegner zu
kooperieren. Gegenüber seinem Kollegen und Freund Hönigschmid äußerte Meyer
die Vermutung, dass Leemans’ Bitte »offenbar in der Angst [geschah], dass ihm chau-
145 Vgl. Brion/Moreau 2006, 172–173. Ende 1921 waren 175 Tonnen uranhaltigen Gesteins abgebaut und
100 Tonnen nach Belgien zur Weiterverarbeitung transferiert worden.
146 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 249 : Meyer an Leemans vom 20.12.1921.
147 Vgl. Meyer 1919 ; Meyer/Hess 1919.
148 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 248 : Leemans an Meyer vom 2.7.1921.
149 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 249 : Leemans an Meyer vom 3.9.1921. In unterneh-
mensinternen Dokumenten wird lediglich darauf verwiesen, dass die ersten Gesteinsanalysen in den
kongolesischen Industrielaboratorien der Union Minière durchgeführt wurden. Diese Analysen seien
später durch die Universität Gent bestätigt worden. Vgl. AR-AGR, UM, 259/1079 : Union Minière du
Haut Katanga, Radium vom 1.10.1953. Die Geheimhaltungspolitik des Unternehmens wirkt bis in die
jüngste Zeit fort. In der aktuellen Unternehmensgeschichte der Union Minière ist vom Engagement des
Instituts für Radiumforschung bei der Vorbereitung der Produktion in Hoboken an keiner Stelle die
Rede. Josef Leemans und der Leiter des Industrielabors in Hoboken, Clérin, hätten die Extraktions- und
Weiterverarbeitungsverfahren vielmehr auf der Grundlage der Arbeiten von Marie Curie und André
Debierne entwickelt, die allerdings erst später als wissenschaftliche Berater der Union Minière hinzuge-
zogen wurden. Vgl. Brion/Moreau 2006, 174. Siehe auch Adams 1993, 495 ; Vanderlinden 1990, 92–93.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369