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Das Zentrum (re-)formiert sich 125
vinistische Kreise vorwerfen, dass er sein Material zuerst den Boches [abfällige franzö-
sische Bezeichnung für die deutschsprachige Bevölkerung, S.
F.] zur Verfügung gestellt
habe«.150
Meyer stand angesichts der problematischen materiellen Lage seines Instituts jeder-
zeit gerne zu Diensten und riet den Belgiern, anstatt der zweifelhaften tschechoslowa-
kischen doch gleich die in Wien vorhandene industriell-wissenschaftliche Expertise zu
nutzen : »Wir hätten in Österreich die Möglichkeiten derartige Erze zu verarbeiten an
verschiedenen Stellen, insbesondere befindet sich hier derzeit der Direktor Ulrich, der
die erste grosse Radiumdarstellung durchführte«.151 Um ein geeignetes Aufschlussver-
fahren zu finden, empfahl Meyer den Belgiern, eine Probe der Katanga-Erze zur Ana-
lyse nach Wien zu schicken. Die im Mai 1921 geschürften Proben trafen unverzüglich
ein, und kurz darauf kam auch Leemans in Begleitung des Chemikers Boulanger nach
Österreich. Boulanger blieb zwei Monate in Wien, um gemeinsam mit Ulrich verschie-
dene Aufschlussmethoden des Urans auszuprobieren und die für die Katanga-Erze
zweckmäßigste Methode zu finden.152 Unter maßgeblicher Beteiligung des Instituts-
assistenten Karl Przibram wurde die Anreicherung der radioaktiven Proben gemessen.
Mehrere belgische Mitarbeiter der Union Minière kamen für kürzere Zeit nach Wien,
um die Messmethoden kennen zu lernen.153
Boulanger setzte die Wiener Versuchsreihen später im unternehmenseigenen Labor
in Hoboken fort. Zugleich wurde im flandrischen Olen eine Radiumfabrik errichtet,
die im Winter 1922 ihre Produktion aufnahm.154 Dank des hohen Radiumgehalts der
kongolesischen Erze und der geringen Arbeitskosten war die belgische Radiumproduk-
tion äußerst rentabel und produktiv. Ein Dreivierteljahr nach Produktionsbeginn
stellte die Olener Fabrik bereits vier Gramm Radium pro Monat her.155 Damit avan-
150 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 221 : Meyer an Hönigschmid vom 7.10.1922.
151 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 248 : Meyer an Leemans vom 10.7.1921. Der kurz vor
Kriegsende als Direktor der k. k. Uranfarbenfabrik in St. Joachimsthal entlassene Carl Ulrich wurde
nach dem Krieg Ministerialrat am Ministerium für öffentliche Arbeiten in Wien und forschte bis zu
seinem Tod 1924/25 unentgeltlich am Institut für Radiumforschung. Vgl. Meyer 1950, 12, 14 ; Meyer
1930, 181.
152 Die Belgier entschieden sich später für das Schwefelverfahren. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K
15, Fiche 249 : Leemans an Meyer vom 3.2.1922.
153 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 235 : Meyer an Karlik vom 23.11.1949.
154 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 249 : Leemans an Meyer vom 29.12.1921 ; ebd., K
11, Fiche 178 : Boulanger an Meyer vom 1.1.1922. Siehe auch Ceranski 2005, 109–110. Siehe zur im
ersten Jahr produzierten Radiummenge AR-AGR, UM, 259/553 : Société Générale Métallurgique de
Hoboken, Augmentation du Capital de la SGMH vom 11.4.1923.
155 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 249 : Leemans an Meyer vom 15.9.1923. Der
enorme Umfang dieser Produktion wird deutlich, wenn man die Produktionsmengen der US-amerika-
nischen Radiumindustrie bis 1918 dagegenhält. Deren Radiumproduktion war seit 1913 kontinuierlich
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369