Seite - 198 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung in Österreich,
1932–1938198
Bis in die zweite Hälfte der 1930er Jahre wuchs die Wiener Kernforschungsgruppe
auf 40 Personen inklusive Doktoranden und Doktorandinnen an.97 Der Kern der
Gruppe bestand aus rund zehn Personen, von denen die Hälfte Frauen waren.98 Da
die Zahl derer kontinuierlich stieg, die in Wien kernphysikalisch arbeiteten, ent-
brannte erstmals Konkurrenz um die kostbaren Strahlungsquellen. Bis in die frühen
1930er Jahre hinein hatte Meyer den Gästen seines Instituts und zum Teil auch auswär-
tigen Radioaktivisten und Radioaktivistinnen bereitwillig Radiumemanation, Polo-
nium und andere Präparate zur Verfügung gestellt. Dies galt insbesondere auch für die
Mitglieder des Exner-Kreises in Innsbruck und Graz.99 Um den internen Bedarf zu
befriedigen, lehnten er und seine Kollegen Anfragen, Präparate auszuleihen oder gar zu
verkaufen, seit Mitte der 1930er Jahre hingegen fast immer ab.100 Selbst ehemalige
Institutsmitarbeiter wie der 1933 nach London emigrierte Fritz Paneth erhielten radio-
aktive Präparate nur nach längerer Wartezeit. Gustav Ortner, der die Bereitstellung der
Präparate am Institut für Radiumforschung koordinierte, schrieb ihm im Herbst 1935 :
»Was die Emanation betrifft, so steht die Sache sehr ungünstig. Momentan besteht innerhalb
des Institutes eine derartige Nachfrage nach Emanation, dass ich fortdauernd Schwierigkei-
ten mit der Verteilung habe. Heute b[eispiels]w[eise]. bekam eine Dame ca. 400 Mc. für
Neutronenversuche und braucht als Nachschub im Laufe dieser Woche nochmals Emana-
tion, was zur Folge hat, dass ein Herr, der Ra-C braucht, die ganze Woche nicht arbeiten
kann. Ich fürchte, dass vor Weihnachten sich die Situation nicht ändern wird. Meine ›Dik-
tatur‹ ist eben leider durch die Menge des vorhandenen Radiums sehr eng beschränkt. […]
1200 Mc. im Laufe von 3 bis 4 Wochen werde ich im Laufe des Studienjahres wohl nicht
erübrigen können, da das einen ebensolangen Stillstand der hiesigen Arbeiten mit Emana-
tion bedeuten würde. Ich bedauere aufrichtig, dass ich Ihnen derzeit nicht behilflich sein
kann.«101
Gäste, die in Wien kernphysikalisch arbeiten wollten, erhielten die angeforderten Prä-
parate hingegen ohne größere Schwierigkeiten. Anders als das Cavendish Laboratory,
97 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, 4G/F 868 : Gutachten der Kom-
mission zur weiteren Subventionierung auf dem Gebiete der Atomzertrümmerung vom 29.4.1937.
98 Vgl. RAC, RF, RG 1.1, Series 705D, Box 3, Folder 25 : Diary H.M.M. (Paris), Vienna vom 19.1.1934.
99 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206 : Hess an Meyer vom 19.10.1933 ; ebd., K 10,
Fiche 156 : Benndorf an Meyer vom 4.12.1934.
100 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 342 : Meyer an Becker vom 30.4.1935 ; ebd., K
17, Fiche 271 : Ornstein an Meyer vom 8.7.1935 ; ebd., K 15, Fiche 240 : Meyer an Korvezee vom
27.11.1935 ; ebd., K 21, Fiche 342 : Przibram an Greinacher vom 20.9.1937.
101 AMPG, III. Abt., Rep. 45 NL Paneth, Nr. 84 : Ortner an Paneth vom 21.10.1935.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369