Seite - 213 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 213 -
Text der Seite - 213 -
Das Zentrum verliert den Anschluss 213
tuts für Radiumforschung, nämlich in Gastein bei Salzburg zu institutionalisieren.
Dies geschah allerdings nicht in Reaktion auf die geänderte Satzung, sondern ent-
sprang einer privaten Initiative. Das Gasteiner Forschungsinstitut konnte das Interesse
der Amerikaner nicht wecken ; es wurde vielmehr von einem wohlhabenden Wiener
Mäzen, Emerich Granichstädten, finanziert.154
Vergleicht man die Situation in Wien und Innsbruck mit der in den großen euro-
päischen und US-amerikanischen Zentren der Kernphysik, so fällt auf, dass ein spiritus
rector vom Format der Joliot-Curies oder Niels Bohrs fehlte, der die Forschungsgruppe
fachlich in neue Bahnen gelenkt und auf diese Weise für die internationale Wissen-
schaftsförderung attraktiv gemacht hätte. Pettersson hatte diese Rolle in den 1920er
Jahren überzeugend ausgefüllt, sich aber mit der Übernahme seiner Göteborger Profes-
sur nicht nur geographisch aus Wien entfernt. Auf dem Feld der sich rasch weiterent-
wickelnden Kernforschung wurde er allmählich zu einer Randerscheinung. In einem
Brief an Elisabeth Rona gestand er schon 1934 :
»Ich fange mehr und mehr an mich als ›a back number‹ zu fühlen in den A[tom]
Z[ertrümmerungs] Problemen. […] Wenn man auf alle Branchen der experimentellen Kern-
physik vom theoretischen gar nicht zu sprechen au courant halten will, so muss man sehr viel
lesen und dazu fehlt mir in Göteborg sowohl die nötige Zeit als die Litteratur [sic !]. […] Ich
bin ganz der Meinung, den [sic !] Sie auch teilen, dass man müsste trachten in Wien jetzt
etwas tunlichst Gediegenes und dabei auch Wichtiges und Aktuelles ›in this year of grace‹
herauszubringen und nicht mehr Zeit auf [sic !] technische Verbesserungen und Abänderun-
gen […] verlieren. Aber was, das ist eben die Frage ! Ich halte immer noch, für mich persön-
lich, den Nachweis der ›Atomkrüppel‹ mit und ohne Protonen für das wichtigste. Jetzt ist
dazu ein ganz neuer Weg geöffnet durch die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität.
Aber auf dem Gebiet zu arbeiten, worauf sich alle Welt stürzt, ist wohl zu schwierig und
zeitraubend ? Ich weiss nicht, ob irgend ein Spezialproblem dort für Sie in Betracht käme.
[…] Wenn ich mal wieder in Wien zurück bin wird sich hoffentlich mein Gehirn wiederum
beleben. Momentan herrscht darin Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der A[tom]
Z[ertrümmerung].«155
Ähnlich wie Pettersson zog sich auch Kirsch zunehmend aus der Kernforschung zurück.
Er widmete sich geophysikalischen Forschungsfragen, die für eine Förderung durch die
Rockefeller Foundation nicht in Betracht kamen.156 Bereits in den 1920er Jahren hatte
154 Vgl. Knierzinger 2012, 115.
155 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Rona, K 67, Fiche 974 : Pettersson an Rona, undatiert [1934].
156 Vgl. GUB, Hans Pettersson : Karlik an Pettersson vom 13.2.1938. Vgl. auch Stuewer 1985, 291.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369