Seite - 238 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 238 -
Text der Seite - 238 -
Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945238
frühen 20. Jahrhundert besetzt hatten, von den Vertreibungen stark betroffen. Annä-
hernd die Hälfte der noch lebenden Mitglieder der ersten und zweiten Generation
wurde nun von ihren Posten enthoben. An einigen biographischen Beispielen können
die Folgen der Vertreibung und des Krieges für diesen Personenkreis kurz skizziert
werden : Den drei in ihren Spezialgebieten international bekannten Physikern Schrö-
dinger, Hess und Felix Ehrenhaft gelang es nur zum Teil, in der Emigration in Irland
beziehungsweise den USA an die beruflichen Erfolge der Zwischenkriegszeit anzu-
knüpfen. Die Chancen waren für deutschsprachige Flüchtlinge an US-amerikanischen
Universitäten gering, zum einen wegen der starken Konkurrenz, zum anderen auf-
grund der Vorbehalte US-amerikanischer Kollegen ; allerdings wurden Österreicher
tendenziell fairer behandelt als deutsche Emigranten.7 Schrödinger übernahm, nach
einer kurzen Gastprofessur in Gent, 1940 die Leitung des Institute for Advanced Stu-
dies in Dublin, das eigens für ihn eingerichtet wurde. Hess nahm eine Professur an der
Fordham University in New York an, die er bis zu seiner Emeritierung innehatte.8
Ehrenhaft setzte seine Arbeit unter erheblichen Schwierigkeiten ebenfalls in den USA
fort. Ihm gelang es bis Kriegsende nicht, bei US-amerikanischen Kollegen Anerken-
nung für seine Arbeit zu finden.9
Anderen, wie dem langjährigen Assistenten am Institut für Radiumforschung, Karl
Przibram, sowie dem Leiter des Instituts, Stefan Meyer, wurde es fast ganz unmöglich
gemacht, weiter in ihren jeweiligen Spezialgebieten zu forschen. Sie kamen mit dem
nackten Leben davon. Przibram war es seit Beginn des Jahres 1939 verboten, das Ins-
titut zu betreten.10 Er wanderte kurz darauf nach Belgien aus, wo er untertauchte
und als leitender Kopf einer Widerstandsgruppe den Krieg überlebte. Stefan Meyer
wurde im April 1938 mit sofortiger Wirkung als Institutsleiter beurlaubt, nachdem er
zuvor bei der Philosophischen Fakultät der Universität Wien um Versetzung in den
Ruhestand angesucht hatte.11 Noch im selben Jahr wurde er pensioniert, durfte aber
vorerst weiter ein Arbeitszimmer des Instituts benutzen, um radioaktive Präparate zu
ordnen und seine Aufgaben im Rahmen der Internationalen Radiumstandard-Kom-
mission wahrzunehmen.12 An den stürmischen Entwicklungen der Kernphysik nach
7 Vgl. AMPG, III. Abt., Rep. 45 NL Paneth, Nr. 47 : Hess an Paneth vom 7.10.1940.
8 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 208 : Hess an Meyer vom 18.11.1938.
9 Er kehrte 1947 als Gastprofessor und Vorstand des I. Physikalischen Instituts nach Wien zurück.
10 Vgl. AÖAW, Math.-nat. Klasse, Institut für Radiumforschung, K 4, I : Ortner an Präsidium der Akade-
mie vom 8.2.1939.
11 Vgl. Reiter 2000, 121.
12 Vgl. ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640/4/9492 (1938), Bl. 1 : Bun-
desministerium für Unterricht an Meyer, 1938.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369