Seite - 298 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945298
Wissenschaftler den Bau von Atomwaffen aktiv verhindert hatten. Mark Walker zeigte
in mehreren grundlegenden Beiträgen auf, dass Werner Heisenberg und Carl Friedrich
von Weizsäcker selbst aktiv an der Verbreitung der Legende mitwirkten, wonach deut-
sche Physiker Hitler die Bombe absichtlich vorenthielten.325 Im Wissen um die mili-
tärischen Einsatzmöglichkeiten von Kernreaktoren und Plutonium habe man die
Forschungsarbeit im Uranverein absichtlich verzögert
– ein Argument, das sich mittels
der vorhandenen Quellen einwandfrei widerlegen lässt. Richtig ist, dass die Begriffe
»Bombe« und »Sprengstoff« in den Dokumenten des KWI für Physik seit Sommer
1941 praktisch nicht mehr verwendet wurden. Dies lag auch daran, dass das HWA
spätestens 1942 das Interesse an der Entwicklung von Kernwaffen verlor und die Fe-
derführung des Uranvereins einer zivilen Institution, nämlich dem RFR, übertrug. Die
leitenden Mitglieder des Uranvereins konzentrierten sich folglich darauf, die zivilen
Nutzungsmöglichkeiten der Kerntechnik gegenüber den politischen, wirtschaftlichen
und militärischen Führungszirkeln des nationalsozialistischen Systems herauszustrei-
chen.326
Die historische Forschung fokussiert auf Motive und Handlungen der führenden
theoretischen Physiker beziehungsweise Chemiker des Uranvereins Werner Heisen-
berg, Carl Friedrich von Weizsäcker und Otto Hahn und festigt damit die Vorstellung,
dass der Bau von Atombomben für deutsche Wissenschaftler nach 1941 passé gewesen
sei.327 Dabei wird allerdings übersehen, dass das deutsche Militär die nukleare Waf-
fenentwicklung spätestens seit 1943 wieder mit größerer Aufmerksamkeit verfolgte.
Da sich die militärischen Niederlagen der Wehrmacht häuften, wurde gehofft mittels
»Wunderwaffen« eine Kriegswende herbeizuführen. Rainer Karlsch zeigte, dass Ent-
wicklungsarbeiten an einer solchen nuklearen Waffe zwar nicht mehr im Uranverein,
wohl aber bei Arbeitsgruppen durchgeführt wurden, die dem HWA, der Reichspost
und der SS unterstellt waren. Er stellt die kontrovers diskutierte These auf, dass es einer
Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung Kurt Diebners in den letzten Kriegs-
monaten gelungen sei, eine Kernwaffe zu bauen und zu zünden.328 Bei dieser Waffe
habe es sich um Hohlladungs-Sprengstoffe gehandelt, die Kernspaltungsprozesse in
kleinen Proben angereicherten Urans hervorrufen sollten, um damit eine Kernfusion
in einer kleinen Menge Lithiumdeuterid auszulösen. Die Entwicklung einer sogenann-
ten schmutzigen Bombe als Alternative zu den US-amerikanischen Modellen sei von
Walther Gerlach gebilligt worden und habe unter strikter Geheimhaltung gestanden ;
325 Vgl. Walker 1990b, 62.
326 Vgl. Walker 2005, 18–19, 23, 26–27.
327 Vgl. Karlsch 2007, 7.
328 Vgl. Karlsch 2005, 115–161, 209–237 ; Karlsch/Walker 2005, 15–18.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369