Seite - 315 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 315 -
Text der Seite - 315 -
Die Alliierten als Arbeitgeber 315
in Österreich folgten keinem strikten Plan, sondern reagierten auf die Erfahrungen, die
sie vor Ort mit den Wissenschaftlern und anderen Geheimdiensten machten.
Die US-Militärverwaltung stellte spätestens 1946 fest, dass ihre Methode, die in der
US-Zone befindlichen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unter strikte Beob-
achtung zu stellen ohne ihnen gleichzeitig eine berufliche Perspektive anzubieten, un-
zureichend war.41 Sie mussten nämlich mit ansehen, wie die sowjetischen und fran-
zösischen Geheimdienste erfolgreich Fachkräfte abwarben. In Österreich wurden Rei-
sebeschränkungen schneller aufgehoben als in den deutschen Besatzungszonen, was
die Abwanderungen in andere Besatzungszonen erleichterte. Zudem lockte die sowje-
tische Seite mit ausgezeichneten Wohnbedingungen und sehr hohen Löhnen. Dane-
ben stellte sie gut ausgestattete Laboratorien in Aussicht, verbunden mit der Möglich-
keit die bisherige Forschungs- und Entwicklungsarbeit weiterzuführen. Wie Vertreter
der US-Geheimdienste selbstkritisch anmerkten, war die Politik der US-Besatzungsbe-
hörden in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil der sowjetischen Vorgehensweise.42
Josef Schintlmeister war in den Augen der US-amerikanischen Geheimdienstmit-
arbeiter ein sprechendes Beispiel dafür, dass die US-Behörden im Umgang mit Kern-
physikerinnen und Kernphysikern in Österreich versagten. Im Spätsommer 1945, als
sich abzeichnete, dass Wien einen Viermächtestatus erhalten würde, kehrte Schintl-
meister gemeinsam mit Willibald Jentschke und den meisten anderen Kernphysikern
aus Thumersbach nach Wien zurück.43 Dort wurde er gemeinsam mit Karl Kaindl
und dem Mechaniker des Instituts für Radiumforschung, Franke, von einer sowjeti-
schen Sonderkommission befragt. Zuvor hatte er Kontakt in die USA aufgenommen ;
in einem Schreiben an den 1938 nach Kanada und später in die USA emigrierten
Wiener Physikochemiker Hermann Mark empfahl er sich als Mitarbeiter. An Marks
Institute of Polymer Research in Brooklyn, New York, hoffte Schintlmeister ein seit
längerem betriebenes Projekt fortzuführen : die Suche nach Transuranen. Seiner Mei-
nung nach bestand auf absehbare Zeit in Österreich keine Aussicht, das Projekt zum
erfolgreichen Abschluss zu bringen.44 Schintlmeisters Brief wurde von der Alsos-
Mission abgefangen. In einem Schreiben an das Londoner Alsos-Büro wies Samuel
Goudsmit, der Leiter der wissenschaftlichen Aufklärungseinheit von Alsos, auf die
Bedeutung von Schintlmeisters Arbeiten für das US-amerikanische Kernenergiepro-
gramm hin :
41 Vgl. NARA, RG 77, Box 169, Entry 22 : Warner an Shuler vom 4.12.1945.
42 Vgl. NARA, RG 77, Box 167, Entry 22 : Problem of displaced scientists now residing in the American
zone of Austria vom 26.10.1945.
43 Vgl. NARA, RG 77, Box 174, Entry 22 : Warner an Shuler vom 3.5.1946.
44 Vgl. NARA, RG 77, Box 167, Entry 22 : Schintlmeister an Mark vom 7.8.1945.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369