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allein nicht zu befriedigende Bedürfnis nach Anerkennung, Schutz und Ge-
borgenheit im Kreis Gleichgesinnter, eben „unter seinesgleichen“. Von die-
sem „Vorurteil“ (in der positiven Bedeutung des Begriffs im Sinne Hans-Ge-
org Gadamers) geht die vorliegende Studie aus, in der, mitunter implizit,
immer wieder Facetten traditionaler Herrschaft zum Thema werden.
Der Ständegedanke eignet sich hervorragend, neben den Brüchen im ge-
schichtlichen Verlauf auch Kontinuitäten sichtbar zu machen. Die Arbeit
entspringt der Überzeugung, dass es Aufgabe der Historiker ist, auch Ge-
danken zu ihrem Recht kommen zu lassen, aus denen sich die jeweils aner-
kannte Meistererzählung gerade nicht speist. Eine Fülle bislang völlig un-
berücksichtigt gebliebener Äußerungen wichtiger Personengruppen machte
dies zu einem lohnenden Unternehmen: Möge das Ergebnis auch jenen Ver-
tretern der österreichischen Zeitgeschichtsforschung, die mit den Jahren
1933–1938 hart ins Gericht gehen, eine Auseinandersetzung wert sein!
Freilich leben auch Historiker in einer Zeit, er-leben diese, mitunter im
Bewusstsein der eigenen Ohnmacht, sie in dem Maße mitzugestalten, wie
sie es möchten. „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir
gehören ihr“, stellte Gadamer bescheiden fest. Damit meinte er, dass unser
persönlicher Erfahrungshorizont zu einem Teil der Deutung werden muss,
es gar nicht nicht werden kann. Gegenwärtig findet ein politisch-gesell-
schaftlicher Umbruch statt, der sich in Gestalt wachsender Beschleunigung,
angeblicher Offenheit (recte: Beliebigkeit), abhanden kommender Wertmaß-
stäbe und durch eine Reihe von „quasitotalitären Erscheinungen in Gesell-
schaft, Staat und Kirche“ bzw. in einem „demokratischen Relativismus“ (Ch.
Noser) äußert, also wiederum als Krise der Demokratie. Dazu kommt das
durch den Verfall ethischer Standards vorangetriebene Auseinanderklaffen
der Schere zwischen Arm und Reich, die – neben der schwer angegriffenen
Umwelt – mittelfristig wohl größte Gefahr für die Welt. Beides konnte weder
durch diktatorische noch durch vermeintlich demokratische, auf die Aufklä-
rung sich berufende politische Systeme, die den Menschen nach 1945 die
Freiheit wiederzugeben versprachen und in deren Namen agierten, verhin-
dert werden. Max Horkheimer und Theodor Adorno beschrieben schon 1944
das drohende Szenario jener Aufklärung, die ob ihrer Sympathien für so-
zialen Zwang zu „Verstrickung in blinder Herrschaft“ mutieren kann, und
warnten vor der „Selbstzerstörung der Aufklärung“. Nicht anders Reinhart
Kosellecks 1954 ausgesprochene und auch zwei Jahrzehnte später nicht zu-
rückgenommene Beobachtung, Aufklärung könne absoluter auftreten als
jeder Absolutismus, weil sie die Politik moralisiere und zum Zweck der Sta-
bilisierung von Herrschaft instrumentalisiert werde. Lässt man diese Ent-
wicklung eskalieren, wird der neuerliche Verlust von Freiheit und Demokra-
tie im Zeichen eines grausamen Materialismus die unweigerliche Folge sein.
VORWORT 13
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580