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Auch die kurzgefassten Gesamtdarstellungen der Geschichte Österreichs
stimmen größtenteils nicht in den Chor der richtenden Historiker ein. In
der 1990 erschienenen achten Auflage des „Zöllner“ wird der Begriff „Stän-
destaat“ ohne Anführungszeichen, „Austrofaschismus“ hingegen mit Anfüh-
rungszeichen verwendet.83 Zöllner räumt zwar ein, dass die Methoden von
Dollfuß’ autoritärer Politik „fragwürdig“ und „jedenfalls nicht mehr aktu-
ell sind“84, akzentuiert aber auch die Notwendigkeit, sich dem wachsenden
Druck aus Deutschland entgegenzustemmen, und betont die prinzipielle
Unvereinbarkeit des nationalsozialistischen Gedankenguts mit dem der
konservativen Kreise in Österreich.85 In außenpolitischer Hinsicht seien die
Handlungsspielräume Österreichs eng gewesen86; den Westen betreffend
spricht er von „platonischen Sympathien“.87 Sein Fazit über die „geschichtli-
che Stellung“ des „autoritär-ständischen Regimes“ lautet: Es sei nicht wahr-
scheinlich, dass ein demokratisches Österreich in der Lage gewesen wäre,
auf Dauer dem Dritten Reich zu widerstehen.88
Folgt man der Chronologie des Erscheinens der Werke, so hat die Auf-
merksamkeit an dieser Stelle der seit 2006 vorliegenden englischsprachigen
Gesamtdarstellung der Geschichte Österreichs des britisch-amerikanischen
Historikers Steven Beller zu gelten. Er verwendet zwar das Wort „Austro-
faschismus“, aber doch eher als (terminologisch kaum thematisierten) Kon-
ventionsbegriff, nicht in der Absicht, das Regime dezidiert als faschistisch zu
verurteilen.89 Auch Dollfuß wird nicht vor den Richterstuhl geholt: Eher als
politisch anfechtbare Absichten sei es Mangel an politischer Klugheit und
Weitblick gewesen, der sein Handeln bestimmt hätte.90 Seinem System be-
scheinigt Beller den Willen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus,
fasst aber beide als „bürgerliche“ Kulturen zusammen, die sich voneinander
zwar hinsichtlich der Letztwerte („ultimate loyalities“), aber kaum in den
äußeren Formen unterschieden und somit beide im Gegensatz nicht nur zur
sozialistischen, sondern auch zur modernen (jüdischen) Kultur stünden.91
Beller zeichnet Schuschnigg als konservativen Katholiken, der zwar auto-
83 Zöllner, Geschichte Österreichs, 523.
84 Zöllner, Geschichte Österreichs, 517.
85 Zöllner, Geschichte Österreichs, 512 f.
86 Zöllner, Geschichte Österreichs, 518–521.
87 Zöllner, Geschichte Österreichs, 524.
88 Zöllner, Geschichte Österreichs, 523.
89 Ähnlich der amerikanische Historiker John Connelly: „Austrofascism moved not toward
revolution but toward a more uniform bureaucratic authoritarianism, evolving into a con-
servative caretaker regime“; connelly, From Enemy, 105.
90 beller, A Concise History, 222.
91 beller, A Concise History, 224 f. 1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE28
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580