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etwas verloren zu haben, einfloss. Unterschwellig kam eine gewisse „Sehn-
sucht“ nach der Zeit vor 1789 zum Ausdruck. In manchen Fällen ging diese
mit der Tendenz einher, Ereignisse der Vergangenheit verkürzt zu sehen.204
Mehr als Fakten interessiert also die Mentalität der Wortführer des ge-
sellschaftlichen Diskurses bzw. der Personen, die politische Weichenstel-
lungen vornahmen. Es wird versucht, in Tiefenschichten des Bewusstseins
vorzudringen205, auch in den Bereich unhinterfragten Meinungswissens und
unreflektierter Grundannahmen über die soziale Welt, dessen, was Pierre
Bourdieu als Doxa bezeichnet hat: Erst durch dieses Wissen werde den Men-
schen der Glaube an die Existenz distinkter sozialer Gebilde – eben auch
Stände – vermittelt.206 Der Soziologe Theodor Geiger unterschied die Menta-
lität als geistig-seelische Haltung von der Ideologie als geistigem Gehalt.207
Bei autoritären Regimes zog er den Begriff „Mentalität“ dem der „Ideologie“
vor, weil sie kaum intellektuell ausgearbeitet und strukturiert seien: Denn
Mentalität sei psychische Voraussetzung, Ideologie hingegen Reflexion.208
Noch weiter ging José Ortega y Gasset: „Will man den Menschen genauer er-
kennen, muss man in die Schicht der ‚Glaubensgewissheiten’ vorstoßen, sei-
ner profunden Selbstverständlichkeiten, die er kaum bewusst denkt, die er
aber lebt, ja, die er ist.“209 Im gegenständlichen Fall ist besonders eine 1934
von Johann Kleinhappl SJ, einem bislang wenig rezipierten konservativen
Kapitalismuskritiker210, getätigte, in Österreich publizierte Äußerung hilf-
reich: „Wollen wir den ständischen Gedanken richtig erfassen, so müssen
wir von der Wesensart des Menschen selbst ausgehen.“211
Eine feste argumentative Stütze dieses Konzepts ist das mit Bleibende
Stände überschriebene und mit dem Untertitel Ich dien212 versehene Buch
des als Chemiker in der Industrie tätigen Wolfgang Höfler, der rund vier
Jahrzehnte nach dem Ende des Ständestaates seinem Unmut über den aus
dem Westen sich ausbreitenden „Stoffglauben“ Ausdruck verlieh. Seit die
ersten Ansätze freier Marktwirtschaft wirksam geworden seien, habe sich
204 Vgl. hierzu grundsätzlich GheZZi, Nostalgia, 58.
205 vester, Kollektive Identitäten, 11.
206 reitmayer, Politisch-soziale Ordnungsentwürfe, 45 f.
207 Zit. nach raulff, Mentalitäten-Geschichte, 10.
208 linZ, Regime, 132.
209 Zit. nach raulff, Mentalitäten-Geschichte, 10.
210 Zu seiner Person vgl. Anhang 10.4.
211 CS 23. 12. 1934 (J. KleinhaPPl SJ).
212 Das Helmkleinod im Wappen des Prince of Wales enthält ein Spruchband mit dem Wahl-
spruch „Ich dien“. Diesen deutschen Spruch hatte Edward of Woodstock der Legende zu-
folge nach der Schlacht von Crécy (1346) aus dem Wappen des getöteten Königs Johann
von Luxemburg übernommen, der für die Zeitgenossen der Inbegriff ritterlicher Tapferkeit
war; höfler, Bleibende Stände, 23.
1.3 DAS ARBEITSVORHABEN 41
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580