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über ein zu zwei Dritteln nicht klerikales Volk die Diktatur ausüben kön-
nen.“68 So subjektiv die Diktion sein mag, die Zahlen kamen den realen Ge-
gebenheiten nahe: Die zwei Drittel, die nicht den alten Eliten der staatlichen
und kommunalen Bürokratie, dem katholischen Kleinbürgertum und bäuer-
lichen Kreisen entsprachen, waren Sozialdemokraten und illegale National-
sozialisten. Für Letztere stellten gerade die unterprivilegierten Schichten,
darunter viele Jugendliche und die ländliche Unterschicht, ein wichtiges Re-
krutierungsfeld dar.69
Seit dem Mai 1933 wurde als Trägerin der politischen Willensbildung die
sogenannte Vaterländische Front (VF) aufgebaut.70 Karl M. Stepan, der erste
Geschäftsführer71, reklamierte für die VF die Grundsätze der katholischen
Soziallehre.72 Dass er die schriftlichen Verlautbarungen nicht als Rund-
schreiben, sondern als Bundesbefehle bezeichnete, belegt den autoritären
Charakter der VF.73
Gründungsintention war die Schaffung einer Massenbasis, die dem Nati-
onalsozialismus eine positive Alternative entgegenstellen sollte.74 Im Beson-
deren ging es um die Kontrolle der kulturellen Produktion und die Vertie-
fung des vaterländisch-kulturellen Bewusstseins.75 Die VF entwickelte sich
zu einer Dachorganisation, die die bestehende Verbändevielfalt überwölb-
te.76 Von weltanschaulicher Homogenität kann freilich keine Rede sein, in
vielen Fällen war Opportunismus das Beitrittsmotiv.77
Obwohl in der Forschungsliteratur häufig von einer Staatspartei die
Rede ist, betonten die Zeitgenossen, dass es sich um keine Partei han-
delte. Die VF könne sich aber mit der (statischen) Hierarchie der katho-
lischen Kirche vergleichen.78 Da in ihr die traditionellen Parteien mitei-
nander verschmelzen sollten79, wurden diese – sehr zum Bedauern von
68 Zit. nach GoldinGer/binder, Geschichte, 226; vgl. binder, Der „Christliche Ständestaat“,
204.
69 K. bauer, Elementarereignis, 136–138, 141, 149–155, 162 f. und 192; Konrad, Die Veranke-
rung, 159–162.
70 tálos, Herrschaftssystem (2013), 58–60.
71 Pferschy, Steiermark, 957; im August 1934 löste ihn Walter Adam ab, der im Mai 1936
seinerseits durch Guido Zernatto ersetzt wurde; hoPfGartner, Schuschnigg, 141; Kriech-
baumer, Erzählungen, 615 f. und 624.
72 P. huemer, Sektionschef, 326; Kriechbaumer, Erzählungen, 633–643.
73 binder 1982, Karl Maria Stepan, 170.
74 Kindermann, Konservatives Denken, 223; tálos, Herrschaftssystem (2013), 147–151.
75 venus, Rudolf Henz, 33 ; tálos, Herrschaftssystem (2013), 152–161, 174 und 184.
76 Kriechbaumer, Erzählungen, 624–633; mommsen, Theorie, 185.
77 carsten, Faschismus, 222 f. und 250–252.
78 CS 16. 9. 1934 (O. M. fidelis).
79 steiner, Wahre Demokratie?, 171; tálos/manoscheK, Aspekte, 126 f. und 145–153.
3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN66
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580