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Studie mit Rücksicht auf das heutige Verständnis dieses Begriffs vermie-
den. In der Globalisierungsdebatte steht „Neoliberalismus“ nämlich für eine
einseitig auf wirtschaftliche Faktoren ausgerichtete Politik, ähnlich dem
Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der den Anlass zur Ent-
wicklung der ordnungsökonomischen Ansätze gegeben hat.110 Besonders mit
Blick auf Wilhelm Röpke wird „Neoliberalismus“ daher durch „konservativer
Liberalismus“ bzw. „neoliberal“ durch „konservativ-liberal“ ersetzt.111
Zum besseren Verständnis der Sache selbst sei die sogenannte Freiburger
Schule erwähnt, die dem Staat die Aufgabe zuwies, die Wirtschaftsordnung
als Wettbewerbsordnung zu gestalten.112 Ihr Begründer, Walter Eucken,
war der Sohn des Philosophen Rudolf Eucken, der eine gegen Naturalismus
und Intellektualismus gewandte Philosophie entwickelt hatte; er rückte die
Wechselwirkung von Real- und Idealfaktoren ins Licht und wollte den An-
schluss der Subjektivität an die soziale Wirklichkeit finden.113 Der Mensch
sei aufgerufen, in ununterbrochener Selbstvollendung seinen Naturzustand
zu veredeln.114 Nach 1918 beobachtete er mit Sorge die „mächtige demokra-
tische Woge“, die zeige, dass „Spitzenbildung und Abstufung unentbehrlich“
seien.115
Der als Wirtschaftswissenschafter tätige Sohn teilte mit ihm die Forde-
rung nach einer geistigen Neuorientierung und nach festen Wertmaßstä-
ben.116 Seit den späteren zwanziger Jahren verlagerte er den Schwerpunkt
seines Denkens von Fragen der Lebensordnung („Wesensordnung“) zu sol-
chen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.117 In Letzterer nehme im-
mer ein Menschenbild Gestalt an. Dem Menschen obliege es, die ökonomi-
schen Prozesse sinnvoll zu gestalten; sich nach dem Muster des klassischen
Kapitalismus auf die Automatik des Marktes zu verlassen, sei zu wenig.118
Eucken hielt privatwirtschaftliche Marktkoordination für eine gültige Alter-
native zum Determinismus des Sozialismus, zum punktuellen Interventio-
nismus des Kapitalismus und zum natürlichen Harmonisierungsprinzip des
110 renner, Euckens Wirtschaftsethik, 176.
111 Die Begriffe „soziologischer Liberalismus“ und „humanistisch begründeter Neoliberalis-
mus“ für Wilhelm Röpke überzeugen nicht, weil sie seinen weltanschaulichen Konservatis-
mus übersehen; föste, Grundwerte, 147.
112 schäfer, Perspektiven, 139 f.
113 fellmann, Daseinswelt, 156–159.
114 Während des Ersten Weltkriegs hielt Eucken allerdings Reden, die beweisen sollten, dass
der Krieg einen sittlichen Aufschwung bringen könne; flasch, Die geistige Mobilmachung,
16–23.
115 flasch, Die geistige Mobilmachung, 33.
116 GerKen/renner, Die ordnungspolitische Konzeption, 3; rembold, Das Bild, 287.
117 Goldschmidt, Walter Eucken, 151; KlincKowstroem, Walter Eucken, 71.
118 A. rauscher, Das Menschenbild, 195 f.
4.1 DAS „ERBE“ VON 1789 191
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580