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sie müssten aber ein klares Programm haben und Volks-, keine Klassen-
parteien sein.165 1930 sprach er erstmals von „wahrer Demokratie“, wobei er
dem autoritären Prinzip als Alternative zum Parteiensystem größere Bedeu-
tung beimaß:166 Am 8. Mai unterstrich er in einem Vortrag die Funktion des
Ständestaats als Korrektiv zur Demokratie167, und zwar im Gleichklang mit
Bartholomäus Fiala, dem zufolge die berufsständischen Gegensätze nicht
prinzipieller Natur seien wie die der Parteien, sondern „sachliche und kom-
plementäre Gegensätze“. Und: „Die Parteien leben ja vom Gegensatz; die Be-
rufsstände leben durch den Ausgleich.“168
Dollfuß sprach von den „Sünden des Parlamentarismus“, bezeichnete sich
aber dennoch als Demokraten.169 Ein solcher war er aufgrund seines politi-
schen Werdegangs, und auch seine bäuerliche Herkunft schloss einen de-
mokratischen Zug ein.170 In seiner Kindheit und Jugend sowie in den ersten
Jahren in der Bundesregierung finden sich indes auch Elemente, die eine
Öffnung gegenüber dem Autoritären erklären; 1933 tat die Zuspitzung der
politischen Lage das Ihre.171 Am 4. März 1933, so sein Kommentar, sei das
Parlament „an seiner eigenen Demagogie und Formalistik zugrunde gegan-
gen“.172 Für die radikale politische Konsequenz, die er aus der Parlaments-
krise zog, spendete ihm Eugen Margarétha Beifall.173
Otto Ender hatte ebenfalls kein aufklärerisches Demokratieverständ-
nis.174 Bei ihm bewirkte der Rücktritt der drei Nationalratspräsidenten die
„Stärkung des Glaubens an eine Vorsehung“.175 1934 erklärte er, das öster-
reichische Volk habe in den letzten 15 Jahren bewiesen, dass es für die De-
mokratie nicht reif sei.176 Franz Rehrl hingegen erfüllte die Parlamentskrise
mit Sorge; einen Monat später äußerte aber auch er sich positiv zum Gesche-
hen des 4. März, denn er dachte, es sei lediglich ein Provisorium geschaffen
worden.177
Kurt Schuschnigg beklagte 1935 mit Blick auf die Jahre seit 1920 einen
„Notstand“ im Verfassungsleben; in diesen drei Lustren habe sich Öster-
165 rennhofer, Ignaz Seipel, 456.
166 reiter-ZatlouKal, Parlamentarismus, 37 f.; rennhofer, Ignaz Seipel, 660.
167 rennhofer, Ignaz Seipel, 668.
168 fiala, Die berufständische Organisation, 11.
169 dollfuss an österreich, 25; vgl. Eva dollfuss, Mein Vater, 151.
170 F. schausberGer, Letzte Chance, 110.
171 JaGschitZ, Dollfuß, 199 f.
172 dollfuss an österreich, 26.
173 CS 16. 12. 1934 (E. marGarétha).
174 barnay, Erfindung, 436.
175 Zit. nach wanner, Otto Ender, 172.
176 P. melichar, Ein Fall, 198.
177 H. dachs, Franz Rehrl, 242 f. 4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE
LAGE196
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580