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lerschaft begründet241 oder Karl Mannheim 1925 formuliert hatte: „Sobald
das parlamentarische Leben beginnt, verwischen sich auch immer mehr
die weltanschaulichen und ideologischen Konturen.“242 Im Wahlkampf, so
Bartholomäus Fiala, kämen „die niedrigsten Mittel“ zur Anwendung und
das Gemeinwohl gerate in Vergessenheit.243
Diese Argumentationsweise ließ sich zu einer umfassenden Kritik des
Parteiensystems ausbauen: Für einen großen Teil der CSP stand fest: „Die
Parteiverhältnisse im Parlament werden von Woche zu Woche unhaltba-
rer.“244 Othmar Spann erklärte schon die Gründung von Parteien damit,
dass die meisten Menschen gar nicht befähigt seien, eine Wahl zu treffen.245
Im Sinne Oswald Spenglers246 und im Gleichklang mit der in der Weimarer
Republik verbreiteten Wahrnehmung247 benannte auch Oskar von Hohen-
bruck den Sachverhalt sehr deutlich: Er glaubte zu wissen, dass „die große
Zahl von Leuten [...] jeder Art von Weltanschauung überhaupt vollkommen
interesselos gegenüberstehe(n)“; daher seien die bestehenden Parteien keine
„Weltanschauungsparteien“. Dass es solche brauche, stand für ihn zwar au-
ßer Zweifel, aber er wünschte ein System, das die Schaffung einer einheit-
lichen „Gesinnungsgemeinschaft innerhalb der Parteien“ ermögliche.248 In
Alexander Novotny war noch Jahrzehnte nach dem Ende des Ständestaates
das Bild von Parteien tief verankert, die sich eher als Interessenvertretun-
gen denn als weltanschauliche Gruppen verstanden hätten.249 Für Bundes-
kanzler Dollfuß war eine ähnlich ernüchternde Beobachtung 1934 Anlass
zu der Aussage, die österreichische Demokratie erwecke den Anschein, sie
hätte sich von einer res publica zur res privata der Parteien gewandelt: Da-
her könne Österreich nicht eine „Republik“ genannt werden.250 Ähnliche An-
sichten vertrat sein Nachfolger Kurt Schuschnigg.251 Ohne Scheu gestand
auch Eric Voegelin prinzipielle, durch die Vorgänge in Österreich im Jahr
1936 allerdings bestärkte Vorbehalte gegen die Parteipolitik ein.252
241 schrecKer, Für ein Ständehaus, 7.
242 mannheim, Konservatismus, 63.
243 fiala,Die berufständische Organisation, 2–4.
244 Zit. nach Kriechbaumer, Erzählungen, 278.
245 StL 1933, 354 (O. sPann).
246 boterman, Oswald Spengler, 191–194.
247 merGel, Parlamentarische Kultur, 376.
248 v. hohenbrucK, Zur Frage, 36.
249 novotny, Der berufsständische Gedanke, 210.
250 PMR VIII/6, Prot. 930 (20.–29. 3. 1934), 140 f.; LK, 503 (Chr. v. thienen-adlerflycht).
251 K. schuschniGG, Dreimal, 107; vgl. newman, Zerstörung, 22.
252 ePPel, Österreicher 2, 365 f. 4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE
LAGE202
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580