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Johannes Messner unterstellte den Parteien „Machtinteressen“, die „eine
wirkliche Mitbestimmung des Volkes“ nicht wirksam werden ließen; so
entarte diese Form der Demokratie zur Scheindemokratie und mache „die
Erfüllung der wesentlichen staatlichen Aufgaben unmöglich.“253 Hier liegt
die Wurzel von Leopold Kunschaks Forderung nach einem dem „Parteiin-
teresse“ übergeordneten „Staatsinteresse“.254 Johannes Hollnsteiner warnte
vor der Gefahr, dass das Volk „im Namen der Demokratie entrechtet“ werde,
weil die Formaldemokratie in „hemmungslose Parteiendemagogie“ umge-
schlagen sei.255
Den Begriff „Formaldemokratie“256 hatte der Theologe von den Stände-
theoretikern der Weimarer Republik257 und von Ignaz Seipel258 übernom-
men; auch Friedrich Funder259, der Demokratie als etwas rein Äußerliches
betrachtete, identifizierte sich mit ihm und übte Kritik an einem „mechani-
schen Parlamentarismus“ und an Parteien, die in den späten zwanziger und
frühen dreißiger Jahren die „Zwangslage“ des Staates missbraucht260 und
bei Wahlen „Parteiagitation“ betrieben hätten.261 Zu seinem eigenen Schei-
tern bei der Wahl von 1907 stellte er im Nachhinein fest, dies sei gut gewe-
sen, denn immer deutlicher empfand er das Parteienwesen als Beschrän-
kung der Freiheit.262
Richard Schmitz sprach von „Scheindemokratie“, die einem kleinen Kreis
von Gewählten eine unverhältnismäßige Machtansammlung ermöglicht
habe263; nach 1919 habe sich die „formalistische Übertreibung des demokra-
tischen Gedankens zur Konventsherrschaft und Parlamentsdiktatur entfal-
ten“ können.264 Das Parlament besitze „infolge des moralischen Niedergangs
der Zeit nicht mehr die idealen Voraussetzungen [...], alleiniger Träger der
253 messner, Ordnung, 72.
254 KunschaK, Österreich, 65 f. und 193; R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 29.
255 MSchKP 1, 485–487 (J. hollnsteiner); vgl. buchmayr, Der Priester, 112; MSchKP 1, 1–6 (A.
J. walter).
256 wandrusZKa, Struktur, 334; ludwiG, Österreichs Sendung, 101; PelinKa, Stand, 188; binder
2003, Karl Maria Stepan, 323; P. huemer, Entstehung, 582; H. dachs, Franz Rehrl, 240;
busshoff, Dollfuß-Regime, 189 f. und 193.
257 bohn, Ständestaatskonzepte, 114; merGel, Parlamentarische Kultur, 369.
258 orGler, Ständestaat, 97; senft, Im Vorfeld, 87.
259 Pfarrhofer, Friedrich Funder, 11.
260 Pfarrhofer, Friedrich Funder, 158–161.
261 funder, Aufbruch, 53.
262 reiss, Dr. Friedrich Funder, 145.
263 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 26; vgl. streitenberGer, Leitbild, 141; braun,
Der politische Lebensweg, 236.
264 R. schmitZ, Der Weg, 14.
4.2 KRITIK AN DER PARLAMENTARISCHEN DEMOKRATIE 203
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580