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Sozialordnung abzuändern, Ausdruck von Unvollkommenheit.182 Oswald
Spengler sah in dieser Art des Rückgriffs auf die Natur ein Wunschbild,
das einen doktrinären Zug angenommen habe; demgegenüber sei der Kon-
servatismus praktisch und tatsachenbezogen.183 Der Verlust des Kirchen-
staates (1870) war für die katholische Kirche, die positivem Recht grund-
sätzlich skeptisch gegenüberstand, Anlass, das (göttliche) Naturrecht als
überzeitliches, von der unveränderlichen Natur des Menschen ausgehen-
des Wesensrecht zur lehramtlichen Doktrin zu erheben.184
Thomas von Aquin ist im gegebenen Kontext auch aufgrund seines Bei-
trags zur Definition der Gerechtigkeit von Belang; seit dem 16. Jahrhun-
dert gehörte das Wesen dieser Kardinaltugend, das platonisch-aristotelische
suum cuique185, zum Gemeingut der katholischen Moraltheologie.186 Kurt
Schuschnigg hatte dieses gerade von den Jesuiten kultivierte, mit dem auf-
klärerischen Gleichheitspostulat schwer vereinbare Denken187 an der Stella
Matutina in Feldkirch vermittelt bekommen: Walter Adam zitierte den
Kanzler mit der Ansicht, soziale Gerechtigkeit sei dadurch gegeben, „dass
jedem das Seine wird“.188 Auch Karl Lugmayer nahm auf diesen Gerechtig-
keitsbegriff Bezug.189 Nur Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi räumte ein,
dass allseitige Gerechtigkeit in der Praxis unmöglich sei, dass jeder Gerech-
tigkeit ein willkürliches Element anhafte, weil es viele verschiedene Propor-
tionen gebe, in denen sie sich darstellen könne; was suum cuique im Einzel-
fall bedeute, bleibe der persönlichen Meinung überlassen.190
Angelpunkt war die Gegenüberstellung von iustitia commutativa (Tausch-
gerechtigkeit der Bürger gegeneinander) und iustitia distributiva (zutei-
lende, ausgleichende Gerechtigkeit des Staates gegenüber den Bürgern).191
Letztere, im Denken des heiligen Thomas das eigentliche Zentrum192, ist
die Basis des klassischen Naturrechts, dem zufolge Recht etwas ontologisch
182 GG 4 (1978), 254 (Naturrecht, K.-H. iltinG).
183 boterman, Oswald Spengler, 194; hanisch/urbanitsch, Prägung, 63; mannheim, Konserva-
tismus, 53 und 111.
184 schönberGer, Positivität des Rechts, 801–803.
185 GG 4 (1978), 266 (Naturrecht, K.-H. iltinG); Kondylis, Konservativismus, 68; mayer-tasch,
Korporativismus, 5; PiePer, Über die Gerechtigkeit, 45 f.; seidl, Zur Diskussion, 193.
186 Kustatscher, Virtus, 378–381.
187 stöltinG, „Macht und Eliten“, 226.
188 adam, Staatsprogramm, 76.
189 K. luGmayer, Grundrisse, 109.
190 coudenhove-KalerGi, Ethik, 23 f.
191 härinG, Gesetz, 512–514; PiePer, Über die Gerechtigkeit, 72 f.; 96; rembold, Das Bild,
78–80; vgl. hohenlohe, Ständestaat, 10 f.
192 PiePer, Über die Gerechtigkeit, 81.
5.4 LEBEN UND GEIST 229
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580