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vor, den der Liberalismus übersehen habe.319 Franz Martin Schindler be-
zeichnete diese als gleich wertvoll wie die körperliche; es dürfe nicht nur
die direkte Produktivität zählen, denn alle Tätigkeiten seien sittlich gleich-
wertig. Sein Arbeitsbegriff umfasste auch das in Kultur und Wohlfahrt Ge-
leistete, sogar das Gebet der Ordensleute.320 Johann Kleinhappl SJ erklärte,
Arbeit schaffe nicht nur wirtschaftliche, sondern auch geistige und sittliche
Werte; nur wenn es um „wirklich wertschaffende Arbeit“ gehe, könne dieser
Begriff überhaupt zur Anwendung kommen, denn „für die bloß raffende Tä-
tigkeit [...] ist in der echten ständischen Gesellschaft kein Raum“.321 Auch
in Othmar Spanns universalistischem System war die Wirtschaftstätigkeit
gegenüber religiöser, künstlerischer und sittlicher Tätigkeit nachrangig; die
geistigen Berufe schafften ein „Kapital höherer Ordnung“.322 Johann Stig-
leitner begründete mit diesem Argument seine Kritik am physiokratischen
System.323 Besonders pointierte Worte für den Vorrang des Geistigen fand
Guido Zernatto: „Die Vervollkommnung des Menschen geschieht in der
Hauptsache auf geistigem Gebiet. Die Vervollkommnung und Umschaffung
der außermenschlichen Natur geschieht in der Hauptsache auf materiellem
Gebiet.“324
1924 gab Karl Lugmayer eine Definition von Arbeit: „Arbeit ist jede Tä-
tigkeit, die geeignet ist, ein Bedürfnis der menschlichen Wesenheit/Natur zu
befriedigen.“325 Leistung betrachtete er als Äußerung personalen Wirkens,
die über den seelisch-biologischen Bereich hinausgehe; sie zu quantifizie-
ren wäre mit dem Personbegriff nicht vereinbar.326 Er räumte aber ein, dass
auch die geistige Arbeit materielle Güter brauche, und warnte davor, geis-
tige und körperliche Arbeit gegeneinander auszuspielen.327
Richard Meister stellte das Leben der Kultur, eines Raumes maximaler
Freiheit, der Eigenart des Staates, des am straffsten organisierten aller Sys-
teme, gegenüber:328 Die Lebensaufgabe des Einzelnen sei mit der Ausfüllung
der beruflichen Stellung nicht erschöpft. Ebenso wichtig wie das Verhältnis
des Individuums zur Arbeitsgemeinschaft sei dessen Beziehung zur Kultur-
gemeinschaft des je eigenen Volkes, umso mehr, als der Stufenbau vom In-
319 senft, Im Vorfeld, 68 f.
320 schindler, Lehrbuch II, 351–354.
321 CS 23. 12. 1934 (J. KleinhaPPl SJ).
322 diamant, Katholiken, 212; H. walter, Ständewesen, 112.
323 stiGleitner, Volkswirtschaftslehre, 22.
324 Zernatto, Vom Wesen, 139.
325 K. luGmayer, Linzer Programm, 35.
326 K. luGmayer, Philosophie, 107–109.
327 K. luGmayer, Sein II, 363 f.
328 lechner, Sinn und Aufgaben, 157. 5. DER MENSCH IST
PERSON244
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580