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sondern hielt die Schulung von Technikern, wie es sie nunmehr brauche, für
eine Möglichkeit, an der Weiterformung des menschlichen Charakters zu ar-
beiten.647 In der MSchKP konnte man lesen, in der Technik setze der Mensch
die Schöpfung fort, doch gemäß der naturgegebenen Ordnung; die Technik
müsse nicht in Widerspruch zum Geist stehen: Homer könne man auch nach
der Arbeit lesen.648
Eine ähnliche Offenheit zeigte – bei allen Bedenken – Felix Klezl: Er war
zuversichtlich, „dass eine soziale und moralische Wiedergeburt der Mensch-
heit diesen technischen Fortschritt nicht zum Fluch, sondern zum Segen
werden lässt“.649 Auch Kurt Schuschnigg vertrat keinen radikalen Antimo-
dernismus, sondern verband Prinzipientreue mit Realitätsnähe: „Es wäre
unsinnig, sich gegen den Fortschritt der Technik zu stellen, weil aus ihm
unendlich viel Segen für die Menschheit entsprossen ist, aber es wäre falsch
zu glauben, dass jetzt überhaupt nur mehr der Industrialisierung, der Ver-
messung, der Nivellierung die Zukunft gehöre.“650
Man versteht also, warum der Ständestaat – auch unabhängig vom Fak-
tum des Fehlens einer industriellen Basis in Österreich – auf Rationalisie-
rung und Steigerung der Produktivität verzichtete. Die Übermacht moder-
nisierungsskeptischer Strömungen erklärt auch die nur zögerliche Werbung
für wachstumsfördernden Massenkonsum. Arbeitsbeschaffungsprogramme
konzentrierten sich vornehmlich auf die Bauwirtschaft.651
Die Macht der ungeschriebenen Gesetze
Die Forderung nach Respekt ist kein Gebot positiven Rechts: Sie ist viel-
mehr eines jener ungeschriebenen Gesetze652, von denen klassisches Natur-
recht und personalistische Philosophie leben. Man kann sich das Gefühl der
Gebundenheit an diese in der Reihe der Elemente vorstellen, die Max Sche-
ler zur Umschreibung des Geistes anführte (Kap. 5.4), auch unter den von
Franz Martin Schindler dem Bürger auferlegten Pflichten, wie Ehrfurcht,
Treue und Gehorsam.653 Als wichtigstes Regulativ menschlicher Beziehun-
gen nannte der Wiener Moraltheologe die Liebe, in die Billigkeit eingeschlos-
647 simonett, Die berufsständische Ordnung, 85 f.
648 MSchKP 1, 1124 f.; 2, 279.
649 KleZl, Beruf, Vorwort.
650 K. schuschniGG, Österreichs Erneuerung, 109.
651 sandGruber, Ökonomie, 397–399; unterrainer, Wirtschaftspolitik, 67.
652 Vgl. hierzu umfassend LK, 568 (K. motschmann).
653 schindler, Lehrbuch III, 822–824.
5.6 KULTIVIERUNG PERSONALER WERTE 277
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580