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stellten, dass er am Aufbau der Berufsstände mitwirke.131 In der Mentalität
der Angestellten lebte ebenfalls ein bestimmtes Standesdenken weiter.132
Noch vor der Jahrhundertwende war von „Stand“ auch mit Bezug auf die
Lehrer gesprochen worden, denen die Wahrung ihrer Interessen zugestan-
den wurde.133 Salomon Friedrich Frankfurter betrachtete es als Gewinn,
dass durch die Schul- und Unterrichtsordnung von 1905 „Standesfragen“
der Lehrer stärkere Berücksichtigung gefunden hätten.134 An der Politischen
Verfassung der deutschen Schulen bemängelte er das Festschreiben einer so-
zialen Differenzierung bei den Bildungszielen, wobei er den Begriff „Stand“
im Sinn von „Schicht“ verwendete.135
Die Schulen waren auch wichtige Stätten der Vermittlung von Standes-
bewusstsein – nicht zuletzt weil der Begriff „Stand“ in den 1934/35 erlas-
senen Lehrplan für die Mittelschulen aufgenommen wurde.136 Dieser defi-
nierte u. a. geschlechtsspezifische Erziehungsziele und sah eigene Curricula
für Mädchen vor.137 Dass die Geschlechterdifferenz folglich nicht nur „als
Paradigma für politische und soziale Hierarchien“138, sondern auch als Teil
der Ständethematik zu gelten hat, ist am deutlichsten bei Albert Müller SJ
zu ersehen, auf den sich August M. Knoll diesbezüglich berief.139 Hier lebte
die vormals selbstverständliche Kategorisierung der Menschen nach dem
Geschlecht140 weiter. Koedukation galt als Form der „Gleichmacherei“141 –
was mit keinem Element des Wortfeldes „Stand“ vereinbar wäre.
Die durch die Schulreformen der dreißiger Jahre herbeigeführte Tren-
nung der Geschlechter im Unterricht begann in den Abschlussklassen der
Volksschule.142 Verstärkte Aufmerksamkeit wurde ihr in den Mittelschulen
geschenkt143, deren Angebot nun um ein eigenes Oberlyzeum für Mädchen
erweitert wurde.144 Gleichwohl waren die Mädchen auf dieser Stufe faktisch
131 flödl, Drei Jahre, 11.
132 hanisch, Der lange Schatten, 111.
133 franKfurter, Graf Leo Thun, 119.
134 franKfurter, Österreichs Bildungswesen, 47.
135 franKfurter, Österreichs Bildungswesen, 20.
136 sorGo, Schulpolitik, 181.
137 H. dachs, Das Frauenbild, 90; ennsmann, Frauenpolitik, 13; erben, Schule, 111; Gober,
Schule, 184–188; Grafeneder, Arbeiterfamilie, 87–91; Kirchmayr, Frauenpolitik, 48 f.
138 hauch, Vom Androzentrismus, 352.
139 Knoll, Das Ringen, 5.
140 ulbrich, Ständische Ungleichheit, 89.
141 H. dachs, Das Frauenbild, 86–88; Gober, Schule, 169–176; tálos, Herrschaftssystem
(2013), 383.
142 sorGo, Schulpolitik, 105; tálos, Herrschaftssystem (2013), 398.
143 erben, Schule, 131; Kirchmayr, Frauenpolitik, 46.
144 sorGo, Schulpolitik, 66. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN316
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580