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Nationalismus siedelte von Hildebrand daher auf derselben Ebene an
wie bei der Einzelperson den Individualismus. Im Gleichklang mit Alois
Dempf797, philosophischem Kämpfer gegen Faschismus und Nationalsozi-
alismus798, und mit Max Freiherr von Hussarek799 erklärte er: „Echte Va-
terlandsliebe und Nationalismus sind so verschieden wie die echte, gottge-
wollte Selbstliebe und die egoistische Eigenliebe.“ Während Nationalismus
„kollektiver Egoismus“ sei, handle es sich bei echter Liebe zur Nation, der
man angehört, um „sittlich positive Haltungen und wie jede gottgewollte
geordnete Liebe sogar Pflicht“. Daraus resultiere, dass auch „jede fremde
Nation in ihrer Eigenart als etwas Berechtigtes und Wertvolles anerkannt
wird“.800 Auch für Ernst Karl Winter war der Zusammenhang zwischen
Personalitätsprinzip und nationaler Idee evident801, desgleichen für Kurt
Schuschnigg: Beide betonten den Vorrang des einzelnen Menschen, die nati-
onalistische Zielsetzung nehme hingegen nur auf das Kollektiv Bedacht.802
Selbstredend konnte der Kanzler daher auch den propagandistischen Miss-
brauch des Horazwortes dulce et decorum est pro patria mori durch die Na-
tionalsozialisten nicht gutheißen.803 Diese Haltung blieb nicht ohne Folgen
für das Verständnis von Identität: Im Sinn personalistischer Philosophie
lässt sich der Begriff definieren als Brückenkopf, „[um] die als Freiheit ge-
dachte Individualität des Individuums mit der als integrative Ordnung ge-
dachten Struktur der Gesellschaft zu versöhnen“ (A. Nassehi).804
Die Vertreter solcher Standpunkte mussten sich daher von jenem moder-
nen Nationalismus distanzieren, der auf dem Modell einer Nation von indivi-
duellen Bürgern beruhte. In einer kulturellen und staatlichen Entität dieser
Art, eben dem „Nationalstaat“ des 19. Jahrhunderts mit seinem Willen zum
egalitären Umbau der überlieferten Gesellschafts- und Staatsordnung, sa-
hen sie ein Produkt der jakobinischen Phase der Französischen Revolution,
in dem, wie Andreas Posch überzeugt war805, die Gefahr der Entartung in
aggressiven Imperialismus lauere.806
dere Integrationsfaktoren ersetzte; hanisch, Illusionist, 93; leisse, Der Untergang, 258
und 265.
797 berninG, Alois Dempf, 85.
798 otten, Die „Rettung“, 91; schmuGGe, Alois Dempfs „Sacrum Imperium“, 137 f.; seefried,
Reich, 577 f.
799 NR 17. 10. 1920 (M. v. hussareK).
800 v. hildebrand, Memoiren, 261–264; v. hildebrand, Engelbert Dollfuß, 72.
801 heinZ, E. K. Winter, 271.
802 K. schuschniGG, Österreich, 21.
803 binder/H. schuschniGG, „Sofort vernichten“, 280.
804 Zit. nach schreyer, Die „Nation“, 43.
805 NR 13. 3. 1926 (A. Posch).
806 lanGewiesche, Nation, 39–41; lanGewiesche, ‚Nation’, 18–20; Payne, Geschichte, 52–54.
6.7 HEIMATBEWUSSTSEIN VERSUS NATIONALISMUS 377
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580