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Nähe, war es für sie selbstverständlich, dass einem nicht nur die (Bluts)
verwandten, sondern auch die Landsleute näher stünden als Fremde – aber
auch die Annahme, dass für andere dasselbe gelte.843
Im NR und in der SZ fand seit den 1920er-Jahren eine eingehende Aus-
einandersetzung mit dem Begriff „Patriotismus“ statt, der als positive Hei-
matliebe dem „Nationalismus“ als bewusstem, dem Christentum widerstre-
bendem Sich-Abgrenzen vom anderen entgegenzusetzen sei.844 In der SZ
kam der Begriff „Nation“ selten vor, und wenn, dann synonym mit „Volk“.845
Indirekt war davon aber sehr viel die Rede. Vaterlandsliebe sei eine Tugend,
wenn auch innerhalb maßvoll gesetzter Grenzen, während Nationalismus
durch nichts zu rechtfertigen sei, wie der Erste Weltkrieg gezeigt habe.846
Josef Eberle erinnerte an die christliche Auffassung, der zufolge die Liebe zu
Heimat und Volkstum den Pflichten gegenüber den Eltern gleichkomme, ja
diese mitunter sogar überrage.847 Das NR umschrieb den „wahren“ Nationa-
lismus mit den Elementen, die andere als Patriotismus bezeichneten, wäh-
rend der „falsche“ Nationalismus von Rassenwahn und Hass des anderen
lebe.848
Dass sich Patriotismus nach dem Ersten Weltkrieg zu Nationalismus als
Fremdenhass gesteigert habe, ließ Gonzague de Reynold den Gültigkeitsbe-
reich des vierten Gebots in Erinnerung rufen.849 Der Mensch bedürfe eines
zwischen Einengung und allzu großer Weite angesiedelten „Normalraumes“:
Die für ihn erste Instanz sei die Familie, dann komme das Vaterland; gegen
die übrigen Völker habe man die von der allgemeinen Nächstenliebe gebote-
nen Pflichten.850
Es ging also nicht um die Definition der eigenen Identität in Abgrenzung
von einer anderen, als „Feindbild“ gesehenen oder um die Kompensation
von Unterlegenheitsgefühlen, wie es für den Nationalismus kennzeichnend
ist851, auch nicht um das Finden eines Letztwertes und einer obersten Legi-
timitätsquelle für Forderungen jedweder Art852, sondern um die Benennung
843 Kustatscher, Haus und Familie, 126–128 und 173.
844 werner, Die Wiener Wochenschrift, 16–20.
845 ePPel, Zwischen Kreuz, 129.
846 NR 26. 1. 1924.
847 SZ 20. 3. 1938 (J. eberle).
848 NR 17. 1. 1931.
849 NR 26. 10. 1929.
850 SZ 12. 2. 1928 (G. de reynold).
851 hanisch, Illusionist, 94 f.; lanGewiesche, ‚Nation’, 22; wehler, Deutsche Gesellschaftsge-
schichte, 508. Prägnante Beschreibungen der negativen Konnotation des Begriffs „Natio-
nalismus“ bei GheZZi, Nostalgia, 297, und schreyer, Die „Nation“, 13–15.
852 lanGewiesche, ‚Nation’, 11 und 17; lanGewiesche, Nation, 16 f. und 21.
6.
STANDESBEWUSSTSEIN382
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580