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Gewisse preußische Eigenschaften hätte sich Zeßner-Spitzenberg für Ös-
terreich allerdings gewünscht. Ein Jahr nach der Ausrufung der Republik
suchte er nach möglichen Ursachen für dieses für ihn widrige Schicksal:
Der Österreicher habe sein Österreich immer nur als Geschenk der Natur
und als Selbstverständlichkeit betrachtet, aber nie willensstark und plan-
mäßig daran gebaut. Daher habe er gegen den Zerfall nichts unternommen,
so dass jetzt nur noch die Sehnsucht übrig sei. Und er resümierte: „Es fehlte
uns – ein Erziehungsfehler – der Drill, die Einstellung des ganzen Men-
schen auf Österreichs Kulturarbeitsberuf der Völkerverbindung und Völ-
kerversöhnung im Zeitalter des einseitigen, raubsüchtigen Nationalimpe-
rialismus.“1228
Zur Akzentuierung des Gegensatzes zwischen Preußen und Österreich
trugen nicht zuletzt die Vorbehalte österreichischer Historiker gegen klein-
deutsche Kollegen bei.1229 Über das NR und die SZ erreichten diese ein brei-
tes Publikum. 1927 stellte Raimund Friedrich Kaindl mit Bedauern fest,
dass in Deutschland „seit Jahrzehnten eine Minderbewertung und Herab-
setzung der Österreicher“ stattfinde, ja dass schon den Schülern ein falsches
Bild vermittelt werde, obwohl der Beitrag Österreichs zur gesamtdeutschen
Kultur groß sei.1230 Kaindls „gesamtdeutsch“ denkender Lehrer Heinrich von
Srbik1231 reagierte auf sein Buch Österreich, Preußen, Deutschland. Deutsche
Geschichte in großdeutscher Beleuchtung (Wien 1926) allerdings verhalten:
Sein Vorwurf parteilicher Darstellung traf Kaindl schwer.1232
Betont preußenkritisch war auch Walther Heydendorffs 1947 vorgelegtes
Buch Österreich und Preußen im Spiegel österreichischer Geschichtsauffas-
sung: Der Nationalsozialismus habe „die alten großpreußischen Gedanken-
gänge aktualisiert“.1233 Während Österreich, ein altes Land, „zum eigent-
lichen Stützpunkt des Reichsgedankens und zum Hauptträger der Lasten
aller Reichskriege“ geworden sei, handle es sich bei Preußen um einen ge-
schichtsarmen „lose zusammengefügten, zusammengeraubten Länderbe-
sitz“, was eine „parvenühafte Selbstüberschätzung“ bewirkt habe.1234
1228 NR 16. 11. 1919 (H. K. Zessner-sPitZenberG).
1229 brucKmüller, Nation Österreich, 291.
1230 NR 10. 9. 1927 (R. F. Kaindl); von einer Fehleinschätzung Österreichs in Deutschland
sprach auch J. Eberle: „50 Jahre Preußentum genügten, um Deutschland in der gan-
zen Welt verhasst zu machen“; SZ 11. 4. 1926 (J. eberle); ähnlich die Einschätzung von
KlotZ, Sturm, 22 f.
1231 Zum Inhalt dieses Begriffs vgl. fellner, Reichsgeschichte, 371.
1232 SZ 6. 11. 1927 (R. F. Kaindl); vgl. heiss, Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“, 463, Anm. 34.
1233 heydendorff, Österreich, 9.
1234 heydendorff, Österreich, 11 f. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN420
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580