Seite - 464 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 464 -
Text der Seite - 464 -
sehr engagierten. Sie sollte die Arbeitnehmer politisch vertreten und die
sozialdemokratischen Arbeiter auffangen. Ihre tatsächliche Macht war ge-
ring.303 Dasselbe galt für die 1934 anstelle der Betriebsräte eingerichteten
Werksgemeinschaften, die unterste Stufe des berufsständischen Aufbaus.304
Die Unternehmerorganisationen, nämlich der Industriellenbund, der Ge-
werbebund und der Handels- und Verkehrsbund, gingen aus der Umformung
der entsprechenden Kammern hervor.305 Der Gewerbebund zerfiel in zwei
Vertretungen, eine politische (Österreichischer Gewerbebund) und eine be-
rufsständische (Bund der österreichischen Gewerbetreibenden).306 Kurz vor
der Errichtung hatte Ferdinand Degenfeld-Schonburg in der SZ eine gegen
die Unternehmer gerichtete allgemeine Stimmung konstatiert. Dabei müss-
ten diese aufgrund ihrer Fähigkeit, über den Bereich der Wirtschaft hinaus
zu denken, in der berufsständischen Ordnung „Führer“ sein und bräuchten
bei deren Aufbau viel Freiheit.307 Zum ersten Präsidenten wurde Julius Raab
ernannt.308
Dieser Mandatar hatte herkunftsbedingt eine enge Beziehung zum Ge-
werbe.309 Am 20. Oktober 1932 erschien in der St. Pöltener Zeitung aus sei-
ner Feder ein einschlägiger Artikel, in dem er u. a. das Standesbewusstsein
der Bauern als vorbildlich bezeichnete.310 Weltanschaulich in der Nähe Vo-
gelsangs, hielt er die Strukturen der Landwirtschaft denn auch für geeig-
net, einer Organisation der gewerblichen Wirtschaft Vorbild zu sein.311 Das
Gewerbe sei ein Bereich, der eine Brücke zwischen gesellschaftlich entfern-
303 JaGschitZ, Ständestaat, 511 f.; KluwicK-mucKenhuber, Johann Staud, 120 f.; Pasteur,
Kruckenkreuz, 104 f.; schmit, Christliche Arbeiterbewegung, 42–44 und 100; tálos, Herr-
schaftssystem (2013), 348–354; unterrainer, Wirtschaftspolitik, 50 f.
304 beyer, Ständeideologien, 101 f.; bohn, Ständestaatskonzepte, 104–110; erneGGer, Staatli-
che Sozialpolitik, 80–84; Grafeneder, Arbeiterfamilie, 29–31; JaGschitZ, Ständestaat, 505 f.;
KluwicK-mucKenhuber, Johann Staud, 96 f.; neGer, Verfassung, 98–101; Pasteur, Krucken-
kreuz, 183–190; PutscheK, Ständische Verfassung, 101 f.; reichhold, Geschichte, 493–497;
schmit, Christliche Arbeiterbewegung, 57; tálos, Herrschaftssystem (2013), 342–344; un-
terrainer, Wirtschaftspolitik, 49 f.
305 PutscheK, Ständische Verfassung, 115.
306 eminGer, Das Gewerbe, 141 f. und 157.
307 SZ 18. 8. 1935 (F. deGenfeld-schonburG).
308 diPPelreiter, Julius Raab, 100; ninführ, Julius Raab, 74, 98–101; seliGer, Scheinparla-
mentarismus, 326.
309 In den zwanziger Jahren hatte er eine einheitliche, zunächst unpolitische Organisation
der Selbständigen gegründet und war 1930 zu deren Vizepräsidenten gewählt worden. Als
solcher initiierte er die Umwandlung in eine politische Standesorganisation, die sich zum
christlichsozialen Programm bekannte; ninführ, Julius Raab, 54 und 96; schönner, Julius
Raab, 382.
310 diPPelreiter, Julius Raab, 98.
311 ninführ, Julius Raab, 67. 7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
ORDNUNG464
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580