Seite - 471 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 471 -
Text der Seite - 471 -
Rede war. Henz trat für strenge Aufnahmekriterien ein.378 Auch in allen üb-
rigen Bereichen gelang der geplante berufsständische Aufbau nicht. Beson-
ders einsichtig ist dies im Fall der Industrie: Diese, so Georg Moth, stehe
„berufs- und ständelos vor uns“; sie habe die „berufsständischen Überreste“
zerstört und die Entwicklung von Klassen gefördert.379 Oskar von Hohen-
bruck bescheinigte der Industrie „Standescharakter“ nur in Hinblick auf das
Unternehmertum, nicht aber auf die Arbeiterschaft; daher sei zu befürchten,
dass der Stand der Industrie immer ein unechter bleiben werde.380 Richard
Schmitz sah in diesem Bereich kaum Möglichkeiten, auf Bestehendes aufzu-
bauen, weil es keine Traditionen aus der Vergangenheit gebe: „Die Industrie
entstand im Kampf gegen die frühere Wirtschaftsordnung.“381
Auf Länderebene gelang die Umsetzung des berufsständischen Konzepts
in der von Bürgermeister Richard Schmitz geschaffenen Wiener Bürger-
schaft in vorbildlicher Weise.382
Das Scheitern des berufsständischen Aufbaus
Im März 1938 stellte Friedrich von Weichs, der Verfasser eines, wie erin-
nerlich, sehr verbindlichen ständischen Modells (Kap. 3.6), ernüchtert fest,
dass in viereinhalb Jahren nicht viel geschehen sei. Er räumte ein, dass es
sich um eine schwierige Aufgabe handle, weil in der Bevölkerung viel Behar-
rungsvermögen herrsche und der Kapitalismus nach wie vor tief verankert
sei.383 In der Tat fanden die zweite und dritte Etappe des berufsständischen
Aufbaus bis 1938 keine Verwirklichung.384 Die MSchKP hatte dieses Faktum
bereits 1937 kritisch angesprochen.385
Als wichtige Ursache ist neben den bereits angesprochenen Problemen der
Umstand zu nennen, dass das öffentliche Interesse geringer war als erwar-
tet. Auch war nicht klar, ob das Unternehmen auf Länder- oder auf Bun-
desebene beginnen solle. Nach Dollfuß sollte der Schwerpunkt in den Län-
dern liegen, weil die Berufsstände dadurch den Interessenten näher gerückt
378 S. amann, Kulturpolitische Aspekte, 109–111.
379 moth, Neu-Österreich, 94.
380 v. hohenbrucK, Zur Frage, 9–11.
381 R. schmitZ, Der Weg, 48.
382 braun, Der politische Lebensweg, 299; seliGer, Scheinparlamentarismus, 89 f. und 173–
175.
383 CS 6. 3. 1938 (F. v. weichs); vgl. eminGer, Das Gewerbe, 185 f.
384 erneGGer, Staatliche Sozialpolitik, 61; PutscheK, Ständische Verfassung, 77; senft, Im
Vorfeld, 154–156; tálos, Herrschaftssystem (2013), 137–141.
385 MSchKP 2, 648–650.
7.5 PROBLEME DER BERUFSSTÄNDISCHEN ORDNUNG 471
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580