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Parteiensystem. Im Gleichklang mit Hans Kelsen, der anlässlich der Ver-
fassungsnovelle von 1929 zu bedenken gegeben hatte, dass es auch Fragen
gebe, die nicht (berufs)standesgebunden seien420, bemerkte Oskar von Ho-
henbruck zum Verhältnis zwischen Parteien und Ständen, die Weltanschau-
ung lasse sich nicht ständemäßig gruppieren, und Parteien könne man schon
deshalb nie ganz abschaffen, weil sich die Gesinnung eines Menschen nicht
im Beruf erschöpfe, sondern neben diesem bestehe. Daher werde es auch in
einem Ständestaat Parteien geben.421 Dem entspricht die aus der Analyse
der Ministerratsprotokolle gewonnene Einsicht, dass die Parteien auch nach
ihrer formellen Abschaffung faktisch weiterbestanden.422
Von den Mitgliedern der vorberatenden Organe war vor allem Ulrich Ilg
ein Anwalt der Demokratie: Mit sichtlichem Stolz verwies er darauf, dass in
Vorarlberg in der autoritären Periode berufsständische Wahlen durchgeführt
wurden, die einzigen in Österreich; die Politiker dieses Landes hätten immer
nachdrücklich auf die Verwirklichung demokratischer Formen gedrängt, und
er bedauerte, „dass dies sonst nicht der Fall war“.423 Zur letzten Sitzung des
Bundesrats am 1. Mai 1934, deren Aufgabe es war, die Zustimmung zur be-
rufsständischen Verfassung zu geben, und an der er als Mitglied des Vorarl-
berger Landtags teilnahm, stellte er noch nach Jahren fest: „Die Teilnahme
am offiziellen Begräbnis der demokratischen Verfassung hat mich allerdings
mit gemischten Gefühlen erfüllt.“424 Hans Karl Zeßner-Spitzenberg lobte die
in Vorarlberg gefundene Lösung als Beispiel für eine gelungene Alternative
zur „Formaldemokratie“. Detailliert beschrieb er die in seinen Augen vorbild-
lichen Ortsbauernratswahlen, bei denen ausnahmsweise auch nicht dem Be-
rufsstand angehörende Personen gewählt worden seien, sofern sie nicht ein
Mandat in einem anderen Berufsstand hatten. Dies sei wichtig für Lehrer,
Tierärzte und andere dem Berufsstand verbundene und nützliche Personen,
die ihm nicht unmittelbar angehörten, aber wertvolle Dienste leisteten.425
Andere Mandatare suchten nach Möglichkeiten der Verbindung von
parlamentarischer Demokratie und berufsständischer Ordnung. Richard
Schmitz glaubte, dass es die Parteien neben den Ständen weiterhin brau-
che, „weil bei politischen Entscheidungen die Sachkenntnis beraten, die
Gesinnung aber führen muss“.426 Rudolf Henz wollte die parlamentarische
Demokratie ebenfalls nicht völlig außer Kraft setzen, sondern sie in anderer,
420 olechowsKi/staudiGl-ciechowicZ, Staatsrechtslehre, 231.
421 v. hohenbrucK, Zur Frage, 5 f. und 35.
422 enderle-burcel/neubauer-cZettl, Staat im Umbruch, 418.
423 ilG, Lebenserinnerungen, 25.
424 ilG, Lebenserinnerungen, 22.
425 CS 3. 5. 1936 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
426 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 30. 7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
ORDNUNG476
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580