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sei ein „Hauskaisertum“ entstanden, kein „Kaiserstaat“.151 „Österreicher-
tum“ setzte er mit Föderalismus gleich; es sei die „Verbindung des Verschie-
denen bei Achtung jeder Eigenart“. Mitte des 19. Jahrhunderts sei es, anders
als einst im Heiligen Römischen Reich, aber versäumt worden, „das Län-
dertum grundlegend zu bewahren und zu bewähren“. Als Negativbeispiele
nannte er das historische Preußen und das Italien Mussolinis; der Zentralis-
mus des Ersteren sei zum „Dritten Reich“ verkommen. Der Zentralismus sei
also „eine Folgeerscheinung des Zurückdrängens der Kultur durch Zivilisa-
tion und ein Zeichen der Überspannung des Staatsbegriffs selbst, der allzu
viele Funktionen anderer Gesellschaftsverbände aufgesaugt hat“.152 1920 sei
Österreich dem Länderföderalismus treu geblieben. Zurzeit [sc. 1936, E. K.]
erlebe das Land einen „autoritären Übergangszentralismus“.153
Ignaz Seipel machte den Föderalismus in einer Münchner Rede vom 21.
Januar 1929 zum Thema, und auch er argumentierte historisch: Obwohl un-
ter der gleichen Herrschaft, seien die österreichischen Länder niemals Pro-
vinzen oder Verwaltungsbezirke gewesen. Die Grenze zwischen Föderalis-
mus und Autonomie empfand er als fließend.154
Kurt Schuschnigg dachte ebenfalls in historischen Längsschnitten: In
der österreichischen Geschichte seit 1848 seien „die beiden staatstragenden
Prinzipien des deutschen Raumes“ in zunehmender Schärfe einander gegen-
übergetreten, „das eine von gestern: die föderative und konservative Gestal-
tung des Reiches, […], das andere von morgen: der zentralistische Aufbau
des Machtstaates, die vordringende imperiale Idee der nationalen Ein-
heit“.155 Diese Einstellung hinderte ihn indes nicht, als Justizminister eine
Erweiterung der Kompetenzen des Bundes gegenüber den Ländern anzu-
streben; er begründete diese Politik mit den aktuellen Notwendigkeiten.156
All diese Äußerungen erfolgten in letzter Konsequenz aus altständisch ge-
prägtem Denken heraus. Eine Schlüsselfunktion kam dem Adel zu. Die als
Wissenschafter mit dem 17. und 18. Jahrhundert vertrauten Historiker hat-
ten von diesem Stand dasselbe Bild wie Hans Karl Zeßner-Spitzenberg, der
ihm selbst angehörte, nämlich das einer Zwischenschicht zwischen Krone
und Untertanen, Kernstück eines organischen Staatsaufbaus, und sie wa-
ren tief durchdrungen vom Begriff der Libertät des Alten Reichs, welche
die Idee der Autorität mit der der Freiheit verknüpfte.157 Er entspricht der
151 CS 5. 1. 1936 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
152 CS 18. 3. 1934 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
153 CS 5. 1. 1936 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
154 rennhofer, Ignaz Seipel, 192 und 604 f.
155 K. schuschniGG, Österreich, 8.
156 hoPfGartner, Schuschnigg, 89 f.
157 allmayer-becK, Konservatismus, 52 f. 8. STAAT UND
GESELLSCHAFT502
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580