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Landwirtschaft erhebt Anspruch auf gesellschaftlichen Vorrang; das Gewerbe
betont die Begriffe „Form“ und „Plan“; die Industrie ist sich der „Unrast ei-
gensüchtiger Zeit“ bewusst, die zu Entzweiung geführt habe, gibt sich aber
gleichwohl zuversichtlich.308 Handel und Verkehr rühmen ihre die Wirtschaft
belebende Funktion; Geld- und Kreditwesen bedient sich eines vom mensch-
lichen Körper ausgehenden Vergleichs: Das Geld ist das Blut, sein Fluss der
Kreislauf, der Körper und Geist am Leben hält. Die Freien Berufe betonen
Österreichs Leistungen in den Bereichen Technik, Recht und Medizin; der
Vertreter des Öffentlichen Dienstes erinnert an die Loyalität der Beamten.
Die Zeremonie endet mit einem Auftritt des Sprechers, der für Ordnung
und Harmonie des Zusammenlebens eintritt. Er wendet sich an den Wiener
Bürgermeister mit der Bitte, das Gelöbnis der Stände dem Staatsoberhaupt
direkt zu überbringen, wobei die Stufenfolge über den Bundeskanzler führt;
es werden also sämtliche Instanzen bestätigt. Ausdrücklich hält der Spre-
cher fest, es sei kein Spiel gewesen, sondern die künftige Wirklichkeit im
Land, und erklärt die Handlungen als Vorwegnahme des Zustands, den es in
Österreich zu realisieren gelte.309
In diesen Themenkomplex gehört nicht zuletzt der nach dem Attentat auf
Bundeskanzler Engelbert Dollfuß entstandene „Kult“ um dessen Person.310
Initiator und Ideenlieferant war Rudolf Henz.311 An der „Schmelz“ in Wien
15, einem seelsorglich unterversorgten Arbeiterbezirk, war 1933 auf Initia-
tive von Hildegard Burjan nach einem Plan von Clemens Holzmeister eine
dem früheren Bundeskanzler Ignaz Seipel gewidmete Gedächtniskirche
errichtet worden, in der 1934 auch der ermordete Kanzler beigesetzt und
fortan als „Märtyrer“ verehrt wurde.312 Der Dollfußkult, der durch zeitgenös-
sische Biographien untermauert wurde313, trug Züge des traditionellen Heili-
genkults; vom charismatischen Führerkult des säkularisierten Faschismus
unterschied er sich aber wesentlich.314 Ein Schuschnigg-Mythos kam trotz
entsprechender Versuche nie auf.315
308 Zur Vermittlung von Standesbewusstsein an die Arbeiter vgl. JarKa, Zur Literatur- und
Theaterpolitik, 520.
309 JanKe, ,,Österreich über alles!“, 346.
310 Pfoser/renner, Ein Toter, 353 f.; tálos, Herrschaftssystem (2013), 115–117 und 347; die
gesamte ältere Literatur zusammenfassend und sehr kritisch dreidemy, Der Dollfuß-My-
thos, passim.
311 wohnout, Im Zeichen, 140; venus, Rudolf Henz, 32; höcK, Medienpolitik, 116.
312 GraseGGer, Denkmäler, 506; JaGschitZ, Dollfuß, 209; Ch. maresch, Die katholische Kirche,
51; vallaZZa, ,,Wir bauen auf“, 21; wohnout, Im Zeichen, 139.
313 dreidemy, Dollfuß, 245.
314 ebner, Politische Katholizismen, 199 f.; hanisch, „Christlicher Ständestaat“, 178; hanisch,
Der Politische Katholizismus, 78; Kriechbaumer, Erzählungen, 149 f.
315 tálos, Herrschaftssystem (2013), 120 f.
7.6 SCHUL- UND VOLKSBILDUNG 517
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580