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von Seiten weltanschaulich neutraler Historiker. In etwas einseitiger Kon-
zentration auf Ereignisgeschichtliches kam die Suche nach den tiefer lie-
genden, allgemeineren Denkmustern und den Mentalitäten derer, die die
politischen Weichenstellungen vornahmen, zu kurz. Die Rede ist von einer
katholisch-konservativen Elite, für die ständisches Denken Teil eines umfas-
senden, sehr kohärenten Gedankengebäudes war. Eine neuerliche Analyse
und Systematisierung der diversen Ständestaatskonzepte1 schien hingegen
nicht geboten zu sein.
Ausgangspunkt der Überlegungen war das von vielen Zeitgenossen arti-
kulierte Gefühl, durch die Folgen von 1789 habe der Einzelne soziale Bin-
dungen verloren und sei allein gelassen worden. Die Überzeugung, er könne
und solle dem Staat nicht unmittelbar gegenüberstehen, rief den Wunsch
wach, der Gesellschaft wieder eine klare Struktur zu verleihen. So gewann
der Gedanke der Bindung eines jeden Menschen an intermediäre Einheiten,
eben Stände, neue Attraktivität – selbst um den Preis einer gewissen Rück-
wärtsgewandtheit.
Von „Stand“ im Allgemeinen zu sprechen ist in diesem Zusammenhang
richtiger als von „Berufsstand“, nicht zuletzt weil das eben beschriebene
Problem, und zwar schon seit der Jahrhundertwende, auch als Ausdruck
der Zwischenstellung der modernen Gesellschaft zwischen einem aristokra-
tischen und einem demokratischen Prinzip gesehen wurde.2 Die nach dem
Ersten Weltkrieg in die Wege geleitete Renaissance des Ständischen bedeu-
tete indes keineswegs die Wiederbelebung der alten Geburts-, Reichs- oder
Landstände, man findet aber auch kein Auslangen mit dem, was mit Bezug
auf das 19. Jahrhundert als das „Neuständische“ bezeichnet wird. Weniger
als Rechts- als vielmehr als Wertbegriff wichtig, wurde „Stand“ damals wie
selbstverständlich auch zur Bezeichnung von Altersgruppen, Geschlechtern,
Familien etc., eben nach diversen Kriterien gebildeter Gruppen, verwendet,
so dass Zeitgenossen auch noch in der Zwischenkriegszeit eine „ständische
Atmosphäre“ (A. Kolnai) konstatierten.3 Die Wirkmächtigkeit der von Max
Weber so bezeichneten traditionalen Herrschaft war also auch in einem ver-
meintlich „rationalen“ Zeitalter nicht außer Kraft zu setzen.
Im hiermit beschriebenen Grundmuster klingt ein Wesenszug des ös-
terreichischen Ständestaates an, der nicht deutlich genug betont werden
kann. Österreich sollte ja zu einem Bollwerk gegen den Nationalsozialismus
werden, eine Ideologie, die – gleich dem italienischen Faschismus – tradi-
1 Diesbezüglich dürfte alles Wesentliche gesagt – und von der Weimarer Republik auf Öster-
reich übertragbar sein: bohn, Ständestaatskonzepte.
2 seeliG, Die „soziale Aristokratie“, 153.
3 Kolnai, Ideologie, 16. 9. RESÜMEE: STATUS IST
ORDO528
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580