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über die Berufsstände als Basis einer neuen politischen Ordnung dürfte
die geschichtsphilosophischen Reflexionen mitbestimmt haben, die er 1943
seinem Onkel, dem Historiker Hermann Wopfner, mitteilte: Er halte es für
ein Gesetz der Geschichte, dass Ideen so lange überspitzt würden, bis sie
in ihr Gegenteil umschlügen; später kehrten sie aber in veränderter Form
wieder.41
Mit dieser Formulierung sprach Schuschnigg die Dialektik der Geschichte
an; zugleich benannte er ein zentrales Merkmal dessen, was eine Utopie aus-
macht. Als Entwurf einer solchen verdient der im Österreich der Zwischen-
kriegszeit geführte Diskurs über „Stand“ nämlich fraglos auch weiterhin
die Aufmerksamkeit der Wissenschaft, größere sogar, als es der Fall wäre,
wenn man den Begriff, wie bei Beschränkung auf „Berufsstand“, einfach als
Ausdruck von Nostalgie abtun müsste, denn dann käme für das politische
System in den Jahren 1933–1938 tatsächlich keine andere Deutung in Frage
als „umfassend antimodern“42, und der alles andere überlagernde Aspekt
müsste das Bild einer „Diktatur“, eines „repressive(n) System(s)“43 bzw. des
Menschenrechte und Menschenwürde missachtenden „Unrechtsstaates“44
sein, das Teile der geltenden Meistererzählung bestimmt. Versteht man
eine Utopie indes als Zeitdiagnose mit anschließender Kritik an bestehen-
den Verhältnissen, als Reaktion also, verbunden mit dem Versuch auszulo-
ten, wie es besser sein könnte45, so ist der analysierte Diskurs ein wichtiger
Beitrag zur Schärfung des Blicks der Nachwelt.46 Die darin entworfene an-
tiparlamentarisch-ständische Utopie ist ein Beispiel für eine rückwärtsge-
wandte Utopie.47 Als solche ist sie mit Ciceros Staatsschrift vergleichbar (auf
die Richard Meister auch rekurrierte [Kap. 8.5]), die, über die historische
Wirklichkeit hinausgehend, ihren Ort ebenfalls in der Vergangenheit suchte,
nicht um diese zu verherrlichen, sondern um in paradigmatischer Weise die
ideale Lebensordnung zu beschreiben.48 So gesehen, erweist sich die für Ös-
terreich entworfene Utopie als Eu-Topie, nicht als Nicht-Ort, sondern als
Ort, wo es besser ist.49
41 binder/H. schuschniGG, „Sofort vernichten“, 296.
42 Konrad, Die Bruchlinie, 52 f.
43 hauch, Vom Androzentrismus, 352.
44 Konrad, Die Bruchlinie, 55; wiederin, Die Rechtsstaatskonzeption, 90.
45 saaGe, Politische Utopien, 46–49; saaGe, Vermessungen, 7 f.; saaGe, Der zerstörte Traum?,
14 f.; schölderle, Geschichte, 12 und 158.
46 schölderle, Geschichte, 14.
47 GoldinGer/binder, Geschichte 143; binder, Der „Christliche Ständestaat“, 211.
48 cyron, Ciceros de republica, 356 –358.
49 KytZler, Utopisches Denken, 45; schölderle, Geschichte, 11.
9. RESÜMEE: STATUS IST
ORDO538
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580