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Der »cultural turn« und seine Folgen 35
2. Der »cultural turn« und seine Folgen
In der Geschichte des Übersetzens und der Übersetzungswissenschaft war eine
Auseinandersetzung mit kulturellen Zusammenhängen bis in die jüngere Ver
gangenheit kaum ein Thema. Vor allem seit der Romantik ist festzustellen, dass
sich der theoretische Diskurs über den Umgang mit dem Fremden in der Über
setzung von Literatur durch die Verwendung von Begriffen wie »Verfremdung«,
»Eindeutschung« oder »Assimilierung« metaphorisch auf politische Praktiken
bezieht. Friedrich Schleiermacher (1963/1813) ist ein interessantes Beispiel für
die Auseinandersetzung mit dem Anderen in der Übersetzung. Er meint, die
von ihm in die übersetzungstheoretische Diskussion eingeführten Begriffe »Ver
fremden« und »Einbürgern« beschreiben die grundlegenden Verfahren, durch
die das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in der Übersetzung geregelt wird.
Jede Übersetzung bewegt sich laut Schleiermacher zwischen diesen beiden Po
len. Er selbst gibt dem Typus des »Verfremdens« den Vorzug, weil er das Fremde
als Wert an sich akzeptiert und diese Erfahrung auch an die LeserInnenschaft
der Übersetzung weitergeben möchte.9
Diese dichotomisierende Sicht von Übersetzung beherrscht den translatori
schen Diskurs bis weit ins 20. Jahrhundert und wird von der Diskussion seitens
linguistischer Ansätze in den Sechziger und Siebzigerjahren fortgeführt, die
dem Postulat der »Äquivalenz« gefolgt sind. Linguistisch ausgerichtete Unter
suchungen waren lange Zeit von einem Äquivalenzkonzept beherrscht, das Zu
ordnungsbeziehungen sprachlicher Einheiten von Ausgangs und Zieltexten zu
beschreiben versucht und zunächst die Invarianz von Textsegmenten bzw. die
unveränderte Gleichheit der übermittelten Nachricht in den Vordergrund stellt
(vgl. Kade 1968 : 90). An anderer Stelle wird der situative Kontext insofern ein
geschlossen, als behauptet wird, dass das Austauschen von Textmaterial in einer
Sprache durch gleichwertiges Textmaterial in einer anderen Sprache nur in einer
vorgegebenen Situation funktionieren kann (vgl. Catford 1965 : 35). Im Rah
men einer weiterführenden Ausarbeitung des Äquivalenzkonzepts meint Wer
ner Koller, Übersetzung sei »das Resultat einer sprachlich-textuellen Operation,
die von einem ausgangssprachlichen Text zu einem zielsprachigen Text führt,
wobei zwischen Zielsprachentext und Ausgangssprachetext eine Übersetzungs-
(oder Äquivalenz-)relation hergestellt wird« (Koller 1979/2001 : 16, Hervorh. i.
O.). So ist für Koller Übersetzung im eigentlichen Sinn nur das, was, wie er
9 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Schleiermachers Übersetzungsbegriff vgl. u.a. Tipp
ner 1997 : 22.
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437