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Sprachpolitik zur »Annäherung der Volksstämme« 73
3. Sprachpolitik zur »Annäherung der Volksstämme«48
Die hier geschilderte, den gesellschaftlichen und politischen Alltag der Habs
burgermonarchie kennzeichnende Sprachenvielfalt wurde von einer komplexen
gesamtstaatlichen und regionalen Gesetzgebung reglementiert. Die Skizzierung
der wichtigsten Stationen dieser Gesetzgebung soll für die im Zentrum dieses
Abschnitts stehenden translationsrelevanten Ausführungen als Rahmen dienen
und verdeutlichen, wie eng die »Sprachenfrage« des Vielvölkerstaates mit der
Übersetzungstätigkeit auf allen zu behandelnden Ebenen verbunden ist.
Der bereits erwähnte Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember
1867 war bis zum Ende der Monarchie die grundlegende Norm des Nationali
tätenrechts. Die Regelungen zu seiner Durchführung lassen erkennen, dass diese
bis 1918 nicht rechtseinheitlich, d.h. für Cisleithanien insgesamt geltend waren,
die einzelnen Kronländer behandelten die mit Artikel 19 in Verbindung stehen
den Sprachenfragen vielmehr nach unterschiedlichen Maßstäben. Aus diesem
Grund wurde auch bereits in den seiner Inkraftsetzung unmittelbar folgenden
Jahren wiederholt ein »Ausführungsgesetz« gefordert, das nähere Regelungen
für Verwaltung und Gerichtsbarkeit treffen sollte (vgl. im Detail Kolonovits
1999 : 92f.). Zur umstrittenen Anwendung des Artikels in der Rechtspraxis trug
mit Sicherheit auch seine unbestimmte und vage Formulierung bei :
Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein
unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.
Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öf
fentlichem Leben wird vom Staate anerkannt.
In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffent
lichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, dass ohne Anwendung eines
Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die
erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält. (Artikel 19, RGBl.
142/1867)
Obwohl also in dem Gesetz keiner Sprache der Primat eingeräumt wurde, kam
es zu kontinuierlichen Wertungen vor allem in der Bezugnahme von Deutsch zu
den anderen Sprachen der Monarchie, und Deutsch hatte de facto nicht zuletzt
48 Ein vom Landesschulrat von Bukowina im Jahre 1913 gestellter Antrag auf Einführung des ob
ligaten Unterrichts in einer zweiten Landessprache wurde unter anderem mit dem Argument der
»Annäherung der Volksstämme« untermauert ; vgl. Stourzh (1980 : 1147). Siehe dazu auch unten.
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437