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1. Einleitung
28 Carnap sich recht daran erinnert , es wäre in den Diskussionen häufig „um die Klärung der
logischen Natur von Werturteilen“ gegangen ( Carnap 1963a [ 1993 , 127 ]), so haben wir da-
von zumindest keine Zeugnisse.
In den Publikationen der Mitglieder und in den Publikationsorganen der Bewegung
finden sich hingegen zahlreiche moral- und wertphilosophische Ausführungen bzw. ganze
Werke. Konnte sich Menger 1974 im Nachwort zur englischen Ausgabe von Moral , Wil-
le und Weltgestaltung nur an Schlicks Arbeiten zur Ethik erinnern , so enthält die spätere
Biografie Mengers schon ein eigenes Kapitel „The Circle on Ethics“. Menger geht darin
nicht nur auf seinen eigenen Beitrag und die Arbeiten Schlicks ein , sondern beschäftigt
sich darüber hinaus mit Beiträgen Carnaps , Neuraths und Krafts. ( Menger 1994 ) Weite-
re spätere Beiträge stammen u. a. von Feigl und Frank , die die vorliegende Untersuchung
ebenfalls behandeln wird. Auch Zilsels Die Geniereligion ( 1918 ) befasst sich im letzten Ka-
pitel mit Wertfragen.22 Auf Arbeiten aus der Berliner Gruppe , grundlegende Referenz-
werke wie auf Wittgensteins Tractatus und für die Referenzgeschichte zentrale Schriften
wie das kleine Büchlein Language , Truth and Logic von Alfred Jules Ayer wird ergänzend
und in den entscheidenden Zusammenhängen einzugehen sein.
3. Zeitliche Begrenzungen : Zeitlich steht die Phase des historischen Wiener Kreises von
1924 bis 1936 im Vordergrund. Bei den einzelnen Mitgliedern werden jedoch auch jeweils
vorangehende und nachfolgende Entwicklungen berücksichtigt werden.
22 Zilsels erste umfassendere Arbeit ist eine Untersuchung über die Geniereligion , die er in der ( früh- )
bürgerlichen Gesellschaft ausmacht. Ein ausgeprägter Persönlichkeits- und Geniekult paare sich dort
mit einer Geringschätzung und Verachtung der Bevölkerungsmehrheit. Die Geniereligion sei zum ei-
nen durch die Überzeugung charakterisiert , das ( künstlerische ) Genie schaffe vor allem für die Nach-
welt , in der das Genie jene Anerkennung finden werde , die ihm zeitlebens versagt wird. Dieser Nach-
weltruhm ist für Zilsel eine Erlösungsidee. Als Motiv hinter der Geniereligion stehe eine religiöse
Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Hier spielt auch eine Vorstellung von Moral hinein , nämlich eine an
Lohn und Strafe orientierte Moral : Die Nachwelt entschädigt für das Leiden am lebenslänglichen Ver-
kanntwerden. ( Sandner 2006 , 226 f. ) Das Elitäre wird zum moralisch Besseren erklärt : „Der Schwär-
mer vermeint zuerst , die Welt sei aus den Angeln , wenn es den Operettenkomponisten besser ergeht
als den Philosophen ; dann hält er es für moralischer , daß man Handwerker , die die ‚Lustige Witwe‘
genießen wollen , ihr gutes Geld dafür ausgeben lässt , daß sie die Neunte Symphonie anhören müs-
sen ; und schließlich entrüstet er sich darüber , daß man ein Volk für Krämerinteressen in den Krieg
ziehen lässt , statt für Goethe , Beethoven und Kant.“ ( Zilsel 1918 [ 1990 , 185 ]) Am Schluss des Buches
vertritt Zilsel das Ideal der Sache als einzigen objektiven und absoluten Wert. Zilsel hielt im Rahmen
seiner Lehrtätigkeit an Wiener Volkshochschulen darüber hinaus wiederholt Kurse zur Ethik ab ( u. a.
„Geschichtsphilosophie und Ethik“, „Einführung in die Ethik“, „Grundfragen der Moral“. ) Im Som-
mersemester 1931 war ein Kurs Schlicks Ethik gewidmet : „Gemeinsame Lektüre und Besprechung des
neuen Werkes von Schlick : Fragen der Ethik“. ( Stadler 1997a , 802–817 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441