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8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral
8.1 Einleitung
Neuraths Bestreben , seine wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Arbeiten
in einen klaren Bezug zu moralischen Belangen zu setzen , war am meisten Philipp Frank
( 1884–1966 ) verbunden , weshalb er an dieser Stelle behandelt werden soll , obgleich sein
Hauptbeitrag zur hier interessierenden Frage erst 1950 entstand.330
Fast gleich alt wie Schlick studierte Frank u. a. bei Boltzmann und Hilbert Mathematik
und Physik. Er war zur Zeit des Wiener Kreises nicht in Wien , sondern in Prag , wo er 1912
bis 1916 als Nachfolger seines Freundes Albert Einstein an der deutschen Universität Prag
eine außerordentliche Professor für theoretische Physik inne hatte und anschließend Di-
rektor des Institutes für Theoretische Physik wurde.331 Frank nahm jedoch während seiner
regelmäßigen Besuche in Wien an den Diskussionstreffen teil und war nach Carnaps Be-
rufung 1931 mit diesem eine Zentralfigur der „Prager Filiale“ des Logischen Empirismus.332
Zuvor zählte Frank bereits zu den Mitgliedern des Ersten Wiener Kreises. Nach der Be-
setzung des Sudetenlandes durch deutsche Truppen im Jahre 1938 musste Frank schon auf-
grund seiner jüdischen Herkunft die Prager Universität verlassen. Er emigrierte in die USA ,
wo er zwischen 1939 und 1953 an der Harvard University lehrte und mehreren Einladun-
gen zu Gastprofessuren an weiteren amerikanischen Universitäten nachkam. 1948 gründete
Frank das Institute for the Unity of Science , das er bis 1965 leitete. Frank , so stellt Nemeth klar ,
war [ … ] nicht nur der Erste , der die kulturelle Seite der Wissenschaftsphilosophie betonte ,
sondern
– nach dem Tod von Zilsel und Neurath in den 1940er Jahren
– auch das letzte Mit-
glied des Wiener Kreises , das für eine entsprechende Deutung des Logischen Empirismus
warb. Er bemühte sich aufzuzeigen , welche sozialen , politischen und kulturellen Wirkungen
die „moderne Wissenschaft und ihre Philosophie“ haben und wie sie zur Weiterentwicklung
moderner Demokratien beitragen können. ( Nemeth 2010 , 220 )
Für Frank sollte die ( Natur- )Wissenschaft Teil eines umfassenderen kulturellen Gesche-
hens sein , Teil einer aufgeklärten Kultur. Er verstand sich als öffentlicher Intellektueller ,
nicht nur als Wissenschaftstheoretiker im engeren , spezialisierten Sinne. ( Nemeth 2010 ,
221 )333 Er wollte u. a. zeigen , dass moralische Werte objektiv sein können , ohne absolut gel-
330 Josef Frank , der bekannte Architekt , ist ein Bruder Philipp Franks.
331 Frank verfasste über Einstein eine Biografie : Einstein. His Life and Times ( 1947 ).
332 Für weitere Informationen zu Leben und Werk siehe Stadler ( 1997a , 681–687 ).
333 Selbst als Wissenschaftstheoretiker vertrat Frank ein breites Verständnis von Wissenschaftstheorie :
Wissenschaft sollte vom Standpunkt der Logik , der Wissenschaftspsychologie sowie der Wissen-
schaftssoziologie untersucht werden. Zudem sollten Studierende lernen , wie die moderne Wissen-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441