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4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
70 Wie bei den letzten Wahlen steht auch diesmal wieder das freisinnige Bürgertum vor einer sehr
ernsten Entscheidung. Nur zwei Parteien sind so groß und gut organisiert , daß sie von bestim-
mendem Einfluß auf die Geschicke unseres Landes sein werden : die christlichsoziale und die
sozialdemokratische. So schwer auch das Bekenntnis fallen mag , muß doch jeder Einsichtsvol-
le , Wahrheitsliebende und durch Wünsche und Hoffnungen Unbestechliche zugeben , daß wir
neben diesen beiden keine andere politische Gruppe haben , die bei der künftigen Gestaltung
Österreichs ausschlaggebend sein könnte. ( Börner 1920 ; zit. n. Kato-Mailáth-Pokorny 2010 , 70 )
Börner gibt schließlich eine klare Wahlempfehlung für die Sozialdemokraten.
4.3 Engagement in überparteilichen Organisationen
4.3.1 Die Volksbildungsbewegung
Wer sich nicht zu sehr an die sozialdemokratische Partei binden wollte , konnte mit ihr
einige gemeinsame Ziele in der Wiener Volksbildungsbewegung zu erreichen suchen. In
der Volksbildungsbewegung , die sich aus dem bürgerlichen aufgeklärten Liberalismus ent-
wickelte , trafen sich sozialistisch Gesinnte mit Sozialliberalen in der Idee , allen Bevölke-
rungsschichten sollte der Zugang zur Bildung offen stehen. Der Wiener Volksbildungsver-
ein entstand ( nach Vereinen in Graz , Linz und Krems ) 1887. In den Jahren 1888 bis 1910
wurde dieser von Friedrich Jodl geleitet , auf den ich weiter unten im Rahmen der Ethi-
schen Bewegung genauer eingehen werde.76 In der Programmschrift des Wiener Kreises
wird Jodl im Zusammenhang mit der Volksbildung auch namentlich angeführt :
Diesem Geist der Aufklärung ist es zu verdanken , daß Wien in der wissenschaftlich orien-
tierten Volksbildung führend gewesen ist. Damals wurde unter Mitwirkung von Victor Adler
und Friedrich Jodl der Volksbildungsverein gegründet und weitergeführt ; [ … ].
( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 6 ])
Neben Jodl war eine zentrale Gestalt der Volksbildungsbewegung der Philosoph , Sozio-
loge und Pädagoge Wilhelm Jerusalem ( 1854–1923 ).77 In seiner Einleitung in die Philoso-
phie , die erstmals 1899 erschien und mehrere Überarbeitungen und Übersetzungen in acht
Fremdsprachen erfuhr , sprach er sich für eine wissenschaftliche Philosophie aus , die je-
doch mehr wäre als Wissenschaft :
76 1910–1914 blieb Jodl noch Ehrenpräsident. ( Jodl M. 1920 , 190 )
77 Jerusalem war auch in der Ethischen Gemeinde aktiv und übersetzte 1908 das Buch Der Pragmatismus
von William James ins Deutsche. Als Verdienst des Pragmatismus sieht er , dass dieser die Philosophie
dem Leben näher gebracht habe. ( Jerusalem 1913 , 109 ) Jerusalem hatte sich 1891 in Wien für Philoso-
phie habilitiert. 1923 wurde er schließlich zum ordentlichen Professor der Philosophie und Pädagogik
an der Universität Wien ernannt.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441