Page - 322 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 322 -
Text of the Page - 322 -
9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
322 Tractatus daran fest , ethische AusdrĂĽcke wĂĽrden ĂĽber Absolutes sprechen , das der Wis-
senschaft nicht zugänglich sei :
Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht , etwas ĂĽber den letzten Sinn des Lebens , das
absolut Gute , das absolut Wertvolle zu sagen , kann sie keine Wissenschaft sein. ( Wittgen-
stein 1929 /30 [ 1989 , 19 ])
Wittgenstein und Schlick waren ĂĽber ihren Moral- und Ethikbegriff uneins.436
9.3.3 Natur und Kultur ( postum 1952 ): Angewandte Ethik
Schlick hat sich auch nach den Fragen nicht von normativer inhaltlicher Ethik distanziert.
Mehr noch , er konkretisierte solche und arbeitete in seinen letzten Lebensjahren an einem
Buch , das den Titel Natur , Kultur , Kunst erhalten sollte. ( Rauscher 1952 , 5 ) Das unvollen-
dete Werk liegt als nachgelassenes Manuskript vor ( Inv.-Nr. 22 , A. 90 a / b ) und wurde un-
ter starker Überarbeitung und Ergänzung 1952 von Hans Rauscher als Natur und Kultur
veröffentlicht. Darin hat Schlick nach heutigem Verständnis Angewandte Ethik betrie-
ben. Der Ausdruck „Angewandte Ethik“ ist in diesem Zusammenhang im Übrigen keine
Neuentdeckung des späten 20. Jahrhunderts , sondern er war spätestens seit den 1890er-
Jahren in der Ethik geläufig. Jodl verwendet ihn häufig ( vgl. Kapitel 3 der vorliegenden
Untersuchung ), Schlick gleichfalls. In seinem Manuskript „Ethik des modernen Lebens.
Eine Kritik der Gegenwärtigen Kultur“ ( 1927/28 ) heißt es :
Wenn ich also sage , dass wir es in diesen Vorlesungen mit angewandter Philosophie zu tun
haben werden , mit angewandter Ethik , so heisst dies , das [ sic ! ] wir uns zum Ziel setzen nicht
die wissenschaftliche Aufgabe der Erforschung der Prinzipien menschlichen Handelns , son-
dern dass wir uns beschäftigen werden mit ihrer Anwendung auf besondere , konkrete Fälle
des menschlichen Daseins. Nicht auf erdachte , ausgeklĂĽgelte FälleÂ
– denn damit blieben wir
immer noch in der Sphäre der TheorieÂ
– sondern auf wirkliche Verhältnisse des menschlichen
Lebens. ( Schlick [ Ethik des modernen Lebens ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 10 / A. 18 , 2 f. )
Dabei reflektierte Schlick zudem die Art von Praxis , die im Hörsaal möglich sei :
Freilich sind wir beschränkt auf diejenige Art von Praxis , die im Hörsaal allein möglich ist.
Im Grunde greifen wir ja nicht direkt ins Leben der Gegenwart ein , sondern sprechen nur von
ihm. In einem gewissen Sinne verlassen wir also , wenn Sie wollen , das Gebiet der Theorie
nicht. In dem Sinne nämlich , in welchem keiner , der nur Bücher schreibt und vom Katheder
redet , ein Praktiker genannt werden kann. Aber schliesslich kann Sprechen , und sogar das
Sprechen vom Katheder , auch als ein Handeln gelten , das zum Leben gehört und aufs Le-
436 Zu Wittgensteins Ethik siehe u. a. von der Pfordten 2010.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441