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4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
68 nigung sozialistischer Hochschullehrer und Mitglied des Wiener Stadtschulrates.72 Ebenso
war Carnap 1918 Mitglied einer sozialistischen Partei geworden ( siehe unten im Carnap-
Kapitel ), doch von einem parteipolitischen Engagement in Wien sah er ab. Teil des par-
teipolitischen Engagements war die Teilnahme an der Arbeiterbildung , die im Rahmen
der allgemeinen Wiener Volksbildungsbewegung betrieben wurde. Diese Art des Enga-
gements werde ich deshalb unten in Abschnitt 4. 3. 1 darlegen.
4.2.2 Proletarische Freidenkerbewegung
Jener Teil der Freidenkerbewegung , der sich als Teil der Arbeiterbewegung verstand und
somit der sozialdemokratischen Partei nahe stand , organisierte sich im 1921 wieder ge-
gründeten Freidenkerbund Österreichs. Eine Vorgängerorganisation war der bereits 1887
gegründete Verein der Konfessionslosen. Wie die Vorgängerorganisation forderte der Frei-
denkerbund eine Trennung von Staat und Kirche , vor allem im Eherecht und in der Schul-
erziehung. Was letztere betrifft , ging es insbesondere um einen nicht-religiösen , dies-
seitsorientierten Moralunterricht , der bereits um die Jahrhundertwende gefordert worden
war.73 1931 umfasste der Verein 45. 000 Mitglieder. Die Satzung sah die „Pflege des freien
Gedankens , d. i. Ausbau und Verbreitung einer auf wissenschaftlicher Grundlage beru-
henden sozialistischen Weltanschauung und Lebensführung“ vor. ( Freidenkerbund Ös-
terreichs 1922 , 2 ) Neurath wollte dies im Sinne seines Sozialepikureismus , auf den ich im
Neurath-Kapitel eingehen werde , verstanden wissen. Er stellte diesen u. a. 1928 in einem
kurzen Exposé der Vereinszeitschrift Der Freidenker dar. Als Mitglied des Freidenkerbun-
des scheint Neurath jedoch nicht auf. ( Stadler 1982a , 171 )
Es ist dieser Verein , der seit 1926 die Gründung des Vereins Ernst Mach betrieb und der
damit dem Wiener Kreis besonders eng verbunden ist , wenngleich nicht allen Mitglie-
dern gleichermaßen. Von den wichtigsten Vertreterinnen und Vertretern des Freidenker-
bundes , die auch im Verein Ernst Mach mitarbeiteten und in dessen Prominentenkomitee
vertreten waren , seien an dieser Stelle genannt : Carl Kundermann ( Stadtschulrat , Sekre-
tär des Vereins Ernst Mach ), Robert und Steffi Endres ( Beisitzerin ), Bruno Schönfeld und
Franz Ronzal ( Kassiere des Vereins Ernst Mach ), Wladimir Mišar sowie Heinrich Voko-
lek ( mit Hahn Obmannstellvertreter des Vereins Ernst Mach ).74
72 Bergmann weist in seinen Erinnerungen aber auch auf Hahns Interesse am Spiritismus hin : „Der meis-
terhaft klare Mathematiker , der scharfsinnige Vertreter unserer Philosophie , der sozialistische Univer-
sitätsprofessor – und tischrückende Gräfinnen , ein einprägsames Bild aus dem Österreich zwischen
1918 und 1938 !“ ( Bergmann 1936 [ 2006 , 646 ]) Zu seinem Engagement in der Volksbildungs- und Schul-
reformbewegung siehe unten. Hahn starb bereits 1934 an den Folgen einer Operation.
73 In Zusammenarbeit mit der Lehrerorganisation wurde 1928 eine Enquete für sittliche Lebenskunde ab-
gehalten , die einem Lebenskundeunterricht als Alternative zum Religionsunterricht gewidmet war.
74 Diese und weitere Angaben finden sich u. a. in Stadler ( 1982a , 160 ff. ). In ihrer Nähe zu sozialistischen
Parteien trafen sich diese Mitglieder des Wiener Kreises mit Mitgliedern der Berliner Gruppe : Hans
Reichenbach und Kurt Grelling engagierten sich schon in der sozialistischen Studentenbewegung.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441