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1. Einleitung
1.1 Die Forschungsfragen
So wie die Entwicklung der Ethik , d. h. der Moralphilosophie , gemeinhin dargestellt
wird , ging es im 20. Jahrhundert bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus zunehmend und
schließlich beinahe ausschließlich um die Analyse moralischer Sprache. Einer der ver-
meintlichen Haupttäter für diese Engführung gilt überdies zumeist schnell als ausge-
forscht : der Wiener Kreis bzw. der Logische Empirismus.1 Aus dem Wiener Kreis und
weiteren europäischen philosophischen Gruppen , vor allem der Berliner Gruppe um Hans
Reichenbach , ging eine philosophische Bewegung hervor , die heute weithin als „Logi-
scher Empirismus“, „Logischer Positivismus“ oder „Neopositivismus“ bekannt ist. Das
Verhältnis dieser Bewegung zu Moral und Ethik wird nicht ohne Grund als ein schwie-
riges erachtet. So wurde über Jahrzehnte hinweg ein moralischen Fragen und einer philo-
sophischen Ethik abträgliches Bild des Wiener Kreises und seiner Philosophie vermittelt :
[ … ] nämlich dem Bild von Feinden jeder philosophischen Fragestellung , die sich in gläu-
biger Unterwerfung unter die empirischen Wissenschaften , insbesondere die Physik , und in
freiwilliger Selbstbeschränkung Fragen über den engen Gesichtskreis der einzelwissenschaft-
lichen Forschung hinaus nicht gestatten , ja diese auch noch verbieten wollen ( Occams Ra-
siermesser ! ), [ … ]. ( Nemeth 1990 , 84 )
Verhielten sich die Mitglieder des Wiener Kreises jedoch tatsächlich gegenüber Moral
und Ethik so ablehnend , wie es die noch immer weit verbreitete philosophische Meinung
annimmt ? Die philosophische und historische Untersuchung des Wiener Kreises seit nun-
mehr vier Jahrzehnten hat in vielerlei Hinsicht zu einer Neubewertung des Wiener Krei-
ses geführt. Wer an der Aufarbeitung des frühen Logischen Empirismus in den letzten
1 Carnap begründet im Vorwort zur zweiten Auflage des Aufbaus diese Wortwahl : Die Aufgabe bestehe
darin , eine Synthese des alten Empirismus mit dem alten Rationalismus herzustellen. Der Name „Lo-
gischer Empirismus“ soll die beiden Komponenten andeuten. ( Carnap 1928a [ 1998 , XVII f. ]) In einem
seiner letzten Briefe an Carnap hebt Neurath hervor , dass er es war , der gegen großen Widerstand im
Kreis für diesen Namen eintrat , dies jedoch – wie so oft bei von ihm eingebrachten Ideen – im Wei-
teren keiner Erwähnung mehr für wert gefunden wurde. ( Neurath an Carnap , 16. Juni 1945 , Nachlass
Neurath , Inv.-Nr. 223 ) Neuraths Nachlass ist neben dem Nachlass Schlicks Teil des Vienna Circle Ar-
chivs , das sich in Haarlem in der Nähe von Amsterdam befindet. Die Inventarnummern der Nachläs-
se Neurath und Schlick folgen dem Inventarverzeichnis des wissenschaftlichen Nachlasses von Moritz
Schlick und Otto Neurath , das Reinhard Fabian 2007 erstellte. Es ist abrufbar unter : http://vienna-
circlefoundation.nl/VCArchive.pdf. Alle Zitate aus Dokumenten der Nachlässe Neurath und Schlick
erfolgen mit Genehmigung der Vienna Circle Foundation. Alle Rechte vorbehalten.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441